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GEWALT UND DIKTATUR IM KLASSENKAMPF
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Content:

Gewalt und Diktatur im Klassenkampf
I. Kinetische und Potentielle Gewalt
II. Die Bürgerliche Revolution
III. Die Bürgerliche Herrschaft
IV. Proletarischer Klassenkampf und Gewalt
V. Russische Entartung und Diktatur
Nachwort
Notes
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Gewalt und Diktatur im Klassenkampf
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I. Kinetische und Potentielle Gewalt
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Man spricht in der Geschichte der menschlichen Gemeinschaften von offener Anwendung materieller Gewalt, wenn man feststellt, dass Kämpfe und Zusammenstösse zwischen Einzelnen oder Gruppen zu irgendeiner Form von materieller Verletzung oder zur physischen Vernichtung von Individuen führen.

Sobald dieses Element des gesellschaftlichen Lebens an die Oberfläche tritt, gibt es Anlass zu den verschiedensten Äusserungen von Abscheu oder Verherrlichung. Diese bilden eigentlich den äusserst banalen Kern der vielfältigen aufeinanderfolgenden Mythen, die das Denken der Gemeinschaft beherrschen.

Die zwei entgegengesetzten Auffassungen sind sich aber darin einig, dass die Gewalt zwischen den Menschen nicht nur eine sehr wichtige Komponente der sozialen Dynamik darstellt, sondern auch einen wesentlichen und oft entscheidenden Faktor aller geschichtlichen Veränderungen.

Die verschiedenen Konfessionen und Philosophien schwanken zwischen den Apriorismen der Gewaltanbetung, des Übermenschen, des auserwählten Volkes einerseits und der Resignation, der Widerstandslosigkeit und des Pazifismus andererseits. Will man vermeiden, in diese Rhetorik und Metaphysik zu stürzen, so ist es notwendig, auf die Grundlagen dieser materiellen Erscheinung, die man physische Gewalt nennt, zurückzugehen, um deren wesentliche Rolle in allen Formen sozialer Organisation zu erkennen, auch wenn die Gewalt nur latent - als Druck, als Drohung, als bewaffnete Vorbereitung - auftritt, denn selbst vor, nach und ohne »Blutvergiessen« sind ihre Auswirkungen von tiefgreifender geschichtlicher Bedeutung.

• • •

Das moderne Zeitalter, das gesellschaftlich durch eine riesenhafte Entwicklung der Produktionstechnik und der kapitalistischen Wirtschaft gekennzeichnet ist, wurde zu Beginn von einer grundlegenden Erweiterung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse begleitet, die sich mit den Namen von Galilei und Newton verbindet.

In der aristotelischen und scholastischen Physik waren irdische Mechanik und himmlische Mechanik zwei vollkommen getrennte und sogar metaphysisch entgegengesetzte Erscheinungssphären. Jetzt aber wurde klar, dass diese beiden Gebiete in Wirklichkeit identisch und mit denselben theoretischen Mitteln zu untersuchen und darzustellen waren.

Man begriff also zum ersten Mal, dass die Kraft, mit der ein Körper, der auf dem Boden liegt, auf diesen Boden - oder auf unsere Hand, wenn sie den Körper hält - drückt, nicht nur dieselbe Kraft ist, die diesen Körper in Bewegung setzt, wenn man ihn fallen lässt, sondern auch dieselbe, die die Bewegungen der Gestirne im Weltall untereinander verbindet, ihre anscheinend unwandelbaren Laufbahnen und ihr mögliches Gegeneinanderstürzen bestimmt.

Es handelt sich nicht um eine rein qualitative und philosophische Wesensgleichheit, sondern um eine wissenschaftliche und praktische, denn Berechnungen der gleichen Art können dazu dienen, das Schwungrad einer Maschine zu entwerfen oder z.B. das Gewicht und die Geschwindigkeit des Mondes festzustellen.

Eine marxistisch geführte Untersuchung der Erkenntnistheorie kann nachweisen, dass die grossen Errungenschaften des Wissens nicht in der Entdeckung neuer, ewiger und unwiderruflicher Wahrheiten bestehen. Der Weg zu weitgreifenderen Entwicklungen und reichhaltigeren wissenschaftlichen und mathematischen Darstellungen einer bestimmten Erscheinungssphäre bleibt offen. Die grossen Entdeckungen bestehen im wesentlichen darin, alte Fehler in ihren Grundfesten unwiderruflich zu zerstören, darunter die vernebelnde Macht der Tradition, die unser Bewusstsein daran hindert, sich ein Bild der wirklichen Sachzusammenhänge zu machen.

Auch auf dem Gebiet der Mechanik hat die Wissenschaft in der Tat Entdeckungen gemacht, die über die Grenzen der Aussagen und Formeln von Galilei und Newton hinausgehen, und wird sie weiterhin machen. Das Hindernis der aristotelischen Thesen wurde aber vernichtet, und das ist eine bleibende historische Tatsache. Es gibt keine zwei Welten mehr, die unvereinbar und von einer idealen geozentrischen Kugel voneinander getrennt sind: unsere Erdenwelt des Verderbens und des gramvoll sterblichen Lebens, und die Himmelswelt in ihrer Unvergänglichkeit und eisig strahlenden Unveränderlichkeit. Diese Auffassung wurde für die ethischen und mystischen Konstruktionen des Christentums reichlich ausgenutzt und eignete sich sehr gut als ideologischer Überbau in einer Welt, die auf den Privilegien der Aristokratien beruhte.

Die Gleichstellung der mechanischen Ereignisse unseres unmittelbaren Erfahrungsbereiches mit dem Bereich der kosmischen Ereignisse ermöglichte gleichzeitig die Feststellung der grundlegenden Identität der Energie, die ein Körper besitzt, sowohl wenn es empirisch offensichtlich ist, dass er sich im Verhältnis zu uns und zu seiner unmittelbaren Umgebung bewegt, als auch wenn der Körper selbst anscheinend stillsteht.

Diese beiden Begriffe - potentielle oder Lageenergie und kinetische oder Bewegungsenergie - durchlaufen in ihrer Anwendung auf die Materie immer komplexere Auslegungen. In den Formeln der klassischen Physik erscheinen die Quantitäten von Materie und Energie noch als unveränderlich. Heute wissen wir aber, dass sie durch einen ständigen Austausch, dessen Radius das ganze Universum erfasst, sich ineinander verwandeln; und dennoch kann man anhand der klassischen Formeln Konstruktionen und Maschinen im menschlichen Massstab, und sofern sie kein subatomares Energiespiel einbeziehen, nach wie vor berechnen und bauen. Dass man die potentiellen Reserven und die kinetischen Manifestationen von Energie auf denselben Nenner gebracht hat, bleibt also ein geschichtlich entscheidender Schritt in der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis.

Diese wissenschaftliche Erkenntnis ist nunmehr jedem modernen Menschen geläufig. Das Wasser, das hinter einem Staudamm in der Höhe ruht, scheint unbeweglich und tot. Wenn man aber die Verbindungen zu einer tieferliegenden Turbine öffnet, dann setzt sie sich in Bewegung und liefert uns Triebkraft. Wir kennen die Natur dieser Kraft, auch bevor wir die Schleusen öffnen: sie hängt von der Wassermasse und von ihrer Höhe ab. Es handelt sich also um Lageenergie.

Wenn das Wasser strömt und sich bewegt, äussert sich dieselbe Energie als Bewegungsenergie, als kinetische Energie.

So weiss heute auch ein Kind, dass sich zwischen zwei harmlosen und kalten Drähten des elektrischen Stromnetzes nichts rührt, solange wir sie nicht anfassen. Wenn man sie aber durch einen Leiter verbindet, werden Funken, Wärme, Licht ausgelöst, und, wenn der Leiter unser Körper ist, spüren wir eine Schockwirkung auf unsere Muskeln und Nerven.

Die zwei harmlosen Drähte bergen ein bestimmtes Potential, sie tragen eine bestimmte Spannung. Wehe, man verwandelt diese Energie in kinetische. Heute ist das alles einem Analphabeten bekannt. Diese Erscheinung hätte aber die sieben Weisen Griechenlands und die Doktoren der Kirche enorm verwirrt.

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Wenn wir von der Sphäre der mechanischen Phänomene auf die der Lebewesen übergehen, finden wir in den viel komplexeren Manifestationen und Transformationen der Biophysik und der Biochemie, die Geburt, Ernährung, Wachstum, Bewegung und Reproduktion des Tieres herbeiführen, wieder die Anwendung von Muskelkraft im Kampfe gegen die Umwelt und gegen andere Lebewesen derselben oder einer anderen Gattung.

In diesen materiellen Kontakten und brutalen Zusammenstössen werden die Körperteile und Gewebe des Tieres, das in ernsten Fällen stirbt, verletzt und zerrissen.

Man ist gewöhnlich der Auffassung, dass der Gewaltfaktor erst dann auftritt, wenn die körperliche Verletzung auf die Anwendung der Muskelkraft eines Tieres gegen das andere zurückzuführen ist. Normalerweise neigen wir dazu, keine Gewalt zu sehen, wenn ein Erdrutsch oder ein Orkan die Tiere töten, sondern nur, wenn der klassische Wolf das Lamm verschlingt oder mit einem anderen Wolf, der seinen Teil begehrt, aneinandergerät.

Die gewöhnliche Auffassung dieser so verbreiteten Erscheinungen rutscht nach und nach in die Fallen der ethischen und mystischen Lehren ab. Man hasst den Wolf und beweint das Lämmlein. Später wird man dazu kommen, die Tötung und Zubereitung desselben Lammes als Gericht für die Menschen ruhig zu rechtfertigen, aber entsetzte Schreie gegen die Kannibalen ausstossen. Der Mörder wird verurteilt, der Kämpfer gepriesen, und dasselbe gilt für alle Verletzungen und Zerfetzungen des lebenden Fleisches, denen man nach unseren Richtern, die mit verschiedenen Morallehren gewappnet sind, auch den chirurgischen Eingriff in das Krebsgeschwür zuordnen könnte.

Die ersten Vorstellungen der Menschen hatten in ihrer Unzulänglichkeit sogar den Phänomenen der Mechanik in der Natur der Prozess gemacht und sie aus kindischem Antropomorphismus mit moralischen Kriterien bewertet.

Liebe und Hass waren die Urkräfte der Dinge: wenn die Steine zur Erde fielen und das Wasser ins Meer lief, wenn Luft und Feuer stiegen, so weil jedes Element sein Gleiches und seine Bleibe suchte und seinem Gegenteil davonlief.

Wenn das Wasser und das Quecksilber aus dem umgekippten Glas nicht fielen, so deshalb, weil die Natur die Leere verabscheute. Als Torricelli das barometrische Vakuum schuf, konnte man das Gewicht der Luft berechnen. Auch die Luft war also schwer und drang nach unten mit einer solchen Gewalt, dass sie uns erdrücken würde, wären wir nicht von ihr umgeben und durchdrungen. Es ist also klar, dass die Luft ihr Gegenteil liebt und man hätte sie wegen ehebrecherischer Verletzung ihrer Pflichten verurteilen müssen.

Voluntarismus und Moralismus führen die Menschen auf fast allen Gebieten dazu, an denselben Blödsinn zu glauben.

Kommen wir auf das Tier zurück, das mit seiner Muskelkraft für die Befriedigung seiner Bedürfnisse gegen Hindernisse gewaltsam kämpft, lassen wir aber die bürgerlich-darwinistische Schallplatte von Lebenskampf und natürlicher Auslese sowie andere Litaneien beiseite.

Wir möchten unterstreichen, dass auch hier Antrieb und Auswirkung der Kraftanwendung sowohl potentiell oder virtuell, als auch kinetisch oder aktuell auftreten können.

Nicht nur wird das Tier, das die Gefahren des Feuers, des Eises und der Überschwemmung erlebt hat, auf ihre ersten Anzeichen und bevor es ihnen entgegentreten muss, zu fliehen lernen: auch die Gewalt zwischen zwei Lebewesen wird oft ihre Wirkung erzielen, ohne vollzogen werden zu müssen.

Der wilde Hund wird dem Löwen das getötete Reh nicht streitig machen, wohl wissend, dass ihm dasselbe Los des Opfers beschieden wäre. Das Beutetier unterliegt oft dem Schrecken, noch bevor das Raubtier zubeisst. Manchmal genügt der Blick des Raubtieres, um die Beute zu lähmen und nicht nur an dem Kampf, sondern sogar an der Flucht zu hindern.

In all diesen Fällen siegt die Gewalt in ihrer potentiellen Form, sie braucht sich nicht tatsächlich zu entfesseln.

Sollte sich unser Moralist dazu äussern müssen, glauben wir nicht, dass er das Raubtier freisprechen würde, nur weil sich dessen Opfer durch freie Wahl dem Tod ausgeliefert hat.

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In den ursprünglichen Gemeinwesen verdichtete sich nach und nach das Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Bedürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung vervielfältigten sich; durch Differenzierung der Sprache entstand die Möglichkeit zwischenmenschlicher Kommunikation. Eine Gesamtheit von Beziehungen und Einflüssen, die in der Tierwelt nur skizzenhaft vorhanden war, konnte auf dieser Grundlage entstehen.

Noch bevor man von einer wirklichen Produktion von Gebrauchsgegenständen reden kann, die sich für das Stillen der lebensnotwendigen Bedürfnisse eignen, teilen sich die Mitglieder der ersten Gruppen nach Funktionen und Fähigkeiten, um sich dem Sammeln von wildwachsender pflanzlicher Nahrung, dem Fischfang, der Jagd, der ersten primitiven Errichtung und Erhaltung der Behausungen und der Nahrungszubereitung zu widmen. Die organisierte Gesellschaft zeichnet sich ab, und das Ordnungs- und Autoritätsprinzip entsteht.

Die physisch und auch geistig geeignetsten Individuen bedürfen nicht mehr ständig der Entfesselung von Muskelkraft, um die anderen bei der Anwendung ihrer Zeit und ihrer Anstrengung und beim Genuss der erworbenen Gebrauchsgegenstände in bestimmte Grenzen zu zwingen. Man beginnt, gewisse Normen zu fixieren, denen sich die Gemeinschaft fügt und die respektiert werden, ohne dass man jedesmal einen physischen Zwang anwenden muss: es genügt, den möglichen Zuwiderhandelnden mit einer drakonischen Strafe und in den äussersten Fällen mit dem Tod zu drohen.

Das Individuum, das, von seiner urwüchsigen Tierhaftigkeit getrieben, sich diesen Zwängen entziehen wollte, müsste sich mit dem Häuptling schlagen und wahrscheinlich mit den anderen Stammesgenossen, denen der Häuptling befehlen würde, ihn bei der Bestrafung zu unterstützen. Seine einzige Alternative wäre, aus der Gemeinschaft zu fliehen. Dann würde er sich aber gezwungen sehen, seine materiellen Bedürfnisse weniger üppig und mit grösseren Risiken zu befriedigen, als dies in der Gemeinschaft der Fall war, die, so primitiv auch immer, den Vorteil der kollektiv organisierten Tätigkeit hatte.

Der noch tierhafte Mensch beginnt, seinen Zyklus zu durchlaufen. Dieser ist gewiss nicht einheitlich oder stetig; er kennt Krisen und Rückfälle, ist aber im Ganzen unaufhaltsam und führt vom Urzustand der unbegrenzten individuellen Freiheit, der totalen Selbständigkeit, zur wachsenden Unterordnung unter ein immer engmaschigeres Netz von Bindungen, das den Charakter und den Namen von Ordnung, Autorität und Recht erhält.

Die allgemeine Richtung dieser Entwicklung ist die statistische Abnahme der Fälle, in denen die Gewalt zwischen Menschen in kinetischer Form als Kampf, körperliche Strafe oder Hinrichtung zu Tage tritt - also gleichzeitig die vielfache Zunahme der Fälle, in denen die Verordnungen der Autorität ohne Widerstand befolgt werden, weil der Betroffene aus Erfahrung weiss, dass es ihm nicht zum Vorteil gereichen würde, sich ihnen zu entziehen.

Durch eine vereinfachte Schematisierung und Idealisierung dieses Prozesses gelangte man zu einer abstrakten Konstruktion, die lediglich das Spiel von zwei Faktoren berücksichtigte: der Einzelne und die Gemeinschaft. Man ging dabei von der willkürlichen Hypothese aus, dass jeder Einzelne im gleichen Verhältnis zur Gemeinschaft steht: es handelt sich um die illusorische Perspektive des »Sozialvertrages«.

Nach diesen Ideologien wird der Weg der menschlichen Gesellschaft entweder von einem nachsichtigen Gott zu einem glücklichen Ende gelenkt, oder von einem erlösenden Geist, der eigentlich noch mysteriöser ist und - man weiss nicht, wie - in den Kopf eines jeden Menschen gelangte und seinem Denken, Fühlen und Verhalten innewohnt. Dieser Weg führt zu einem idyllischen Gleichgewicht, zu einer Ordnung der Gleichheit, wo jeder im vollen Genuss der reichen Früchte der kollektiven Arbeit steht, während andererseits die Entscheidungen jedes Einzelnen frei - und frei gewollt - sind.

Der dialektische Materialismus unterstreicht hingegen wissenschaftlich die Rolle der Gewalt und ihren Einfluss, sowohl wenn sie offen auftritt, wie in den Volks- und Klassenkriegen, als auch wenn sie potentiell eingesetzt wird, um den Bestand des Autoritätsapparates, des Rechtes, der herrschenden Ordnung und der bewaffneten Macht zu sichern; er führt ihre Ursachen und das Ausmass ihrer Anwendung auf die Verhältnisse zurück, die zwischen den Menschen durch die Notwendigkeit und Möglichkeit, die Bedürfnisse zu befriedigen, entstehen.

Eine Untersuchung der Strukturen, in denen die Gemeinschaften schon in der Vorgeschichte ihre Lebensmittel beschafften, und der ersten, primitiven Hilfsmittel, Waffen und Werkzeuge, mit denen der Mensch seine Glieder verlängert und ergänzt, um auf die Aussenwelt einzuwirken, führt zur Feststellung von äusserst verschiedenen Beziehungen und Zwischenstufen zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft als Ganzem: Dadurch teilt sich die Gesellschaft in verschiedene Gruppen nach Funktion und Verbrauch. Diese Untersuchung liefert den Schlüssel für die Frage der Gewalt.

Was man gewöhnlich Zivilisation nennt, hat folgenden, wesentlichen Zug: der Stärkere konsumiert mehr als der Schwächere. Solange man im Bereich des Tierlebens bleibt, könnte man sagen, dass die sogenannte Natur, die die bürgerlichen Theorien als einen braven Kapellmeister auffassen, ihre Sache gut gemacht hat, da stärkere Muskeln mit einem grösseren Magen und somit mit mehr Nahrung zusammenhängen. Andererseits bestellt der Stärkere die Sachen so, dass der Schwächere mehr Arbeit als er selber liefert. Weigert sich der Schwächere, zuzusehen, wie der andere mehr isst und weniger, wenn überhaupt, arbeitet, hält ihn die Überlegenheit der Muskeln nieder, und er muss die dritte Plage, die Prügel, einstecken.

Das kennzeichnende Element der Zivilisation ist, wie wir sagten, dass sich dieses einfache Verhältnis unzählige Male in allen Bereichen des gemeinschaftlichen Lebens wiederholt, ohne dass es notwendig ist, die Zwangskraft in aktueller oder kinetischer Form anzuwenden.

Die materielle Grundlage einer dermassen ungleichen Lebenslage der Gesellschaftsgruppen ist ursprünglich eine Arbeitsteilung, die in ihren vielfältigen und komplexen Äusserungen den Privilegierten - Individuum, Familie, Gruppe, Klasse - Anerkennung zusichert. Diese geht von der in der Wirklichkeit begründeten Feststellung ihrer ursprünglichen Nützlichkeit aus und führt zur Herausbildung einer unterjochten Haltung seitens der geopferten Elemente und Gruppen. Diese Haltung setzt sich im Laufe der Zeit fort und wird Bestandteil der Tradition: auch die Gesellschaftsformen haben ihre eigene Trägheit, wie die physische Welt, und neigen dazu, dieselbe Laufbahn zu durchlaufen, dieselben Verhältnisse zu verewigen, bis übergeordnete Störungsfaktoren einwirken.

Sogar der marxistisch ungeschulte Leser wird bemerkt haben, dass wir diese Darstellung der Kürze halber im Rahmen einiger schematischer Hinweise halten. Fahren wir also fort. Als der minus habens nicht nur seinen Ausbeuter nicht mehr dazu zwang, die Durchführung der Befehle durch Gewaltanwendung zu erzwingen, sondern sogar gelernt hatte, zu wiederholen, dass die Auflehnung eine grosse Schande wäre, weil sie die Regeln und Verordnungen gefährden würde, von denen das Heil aller abhing - zu diesem Zeitpunkt entstand - Hut ab! - das Recht. (1)

Der erste König war wohl ein mutiger Jäger und ein grosser Krieger, der mehrmals sein Leben einsetzte und sein Blut vergoss, um seinen Stamm zu verteidigen. Der erste Priester war ein intelligenter Forscher, der die Naturgeheimnisse entdeckte und der Heilkunst und dem Allgemeinwohl zunutze machte. Der erste Herr über Sklaven oder Lohnarbeiter war ein tatkräftiger Unternehmer, der fähig war, die Arbeit so zu organisieren, dass der Ackerbau und die ersten Technologien das grösste Ergebnis lieferten. Die ursprüngliche Anerkennung dieser nützlichen Funktion erlaubte, die Strukturen der Obrigkeit und der Macht aufzubauen und dies wiederum erlaubte denen, die am Gipfel der neuen und ergiebigeren Gesellschaftsformen standen, einen grossen Teil der Produktionszunahme zum eigenen Nutzen zu entnehmen.

Der Mensch hat zunächst die Tiere unter dieses Verhältnis gezwungen. Das wilde Rind konnte erst nach harten Kämpfen und durch das Opfer der kühnsten Dompteure unterjocht werden. Nach den ersten Bezwingungen ist keine aktuelle Gewalt mehr nötig, damit das Tier den Nacken beugt. Seine mächtige Kraft verzehnfacht die Getreidemenge seines Herrn und das Rind erhält einen Teil des Hafers als Nahrung, um seine Muskelkraft zu erhalten.

Der entwickelte Homo sapiens wird bald seinesgleichen unter dasselbe Verhältnis bringen. Es entsteht die Sklaverei. Der Gegner in einer persönlichen oder kollektiven Auseinandersetzung, der zerschundene und verwundete Kriegsgefangene, werden unter weiterer Gewalteinwirkung gezwungen, unter denselben gewerkschaftlichen Tarifverträgen des Rindes zu arbeiten. Er rebelliert am Anfang, kann aber selten den Unterdrücker überwältigen und ihm entfliehen. Auf die Dauer ist es die gängige Erscheinung, dass der Sklave, obwohl er, wie der Ochse, dem Herrn an Muskelkraft überlegen ist, dessen Zwang wie das Tier erleidet, wie das Tier arbeitet und lediglich eine viel reichere Palette von Diensten leistet.

Mit der Zeit bildet dieses System seine eigene Ideologie. Es wird theoretisiert, der Priester rechtfertigt es im Namen der Götter, der Richter verbietet die Übertretungen mit Strafgesetzen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Menschen der unterdrückten Klasse und dem Ochsen: man wird dem Ochsen nie beibringen können, ganz spontan eine Theorie auswendig nachzuplappern, dass das Pflugziehen für ihn von grösstem Vorteil ist, eine gesunde und zivilisierte Freude, eine Erfüllung von Gottes Willen und der heiligen Gesetzespflichten. Auch wird man niemals erleben, dass der Ochse dies alles durch Abgabe eines Wahlzettels bestätigt.

Wir wollten mit unserer Abhandlung über dieses elementare Thema zeigen, dass der grundlegende Faktor der materiellen Kraft, der Gewalt, zu einer Summe von Auswirkungen führt, und zwar nicht nur, wenn die Gewalt auf die Menschen aktuell entfesselt wird, sondern auch und nicht zuletzt wenn dieser Faktor latent wirkt, ohne Kampfgetöse und ohne Blutvergiessen.

Wir werden jetzt die Jahrtausende überspringen und davon absehen, die Untersuchung der historischen Formen von Produktionsverhältnissen, Klassenprivilegien und politischen Staaten zu wiederholen, um uns vielmehr auf die gegenwärtige, kapitalistische Gesellschaft zu konzentrieren und diese Ergebnisse und Kriterien auf sie anzuwenden. Denn so ist es möglich, die ungeheure Mobilisierung zur Irreführung, die heute betrieben wird, zu schlagen. Die herrschenden Minderheiten konzertieren heute im Weltmassstab die ideologische Unterjochung der Massen unter ihrem unheilvollen Diktat. Ihr Grundtrick ist der »Horror«: alle Episoden materieller Unterdrückung, in denen die Kräfteverhältnisse die soziale Gewalt entfesseln und ins Rampenlicht stellen, in denen geschlagen, geschossen, getötet und (was übrigens als höchste Schande erscheinen müsste, hätte die Kampagne nicht so überwältigende Erfolge in der Verblödung der Welt gehabt) mit Atombomben massakriert wird - all diese Episoden werden heute krass hervorgehoben (was im übrigen durch erhebliche Tatsachenfälschungen bekräftigt wird).

In Wirklichkeit gehört aber der qualitativ und quantitativ vorherrschende Posten in der Rangordnung der Gewalt den unzähligen Fällen, wo die Unterdrückung, deren Ergebnis auch hier Elend, Leiden, massenhafte Vernichtung von Menschenleben ist, sich ohne Widerstand, ohne Zusammenstösse und, wie wir eingangs sagten, »ohne Blutvergiessen« vollzieht, und dies auch in Gegenden und Zeiten, wo der soziale Frieden und die Ruhe anscheinend herrschen - worin die Berufstrizzis der geschriebenen und gesprochenen Propaganda die Vollendung der Zivilisation, der Ordnung und der Freiheit lobsingend erblicken.

Die Gegenüberstellung des Gewichts beider Faktoren - der aktuellen und der latenten Gewalt - wird zeigen, dass letztere aller Heucheleien und Skandalsucht zum Trotz vorherrscht. Und auf dieser Grundlage allein kann man eine Theorie aufbauen und einen Kampf führen, die die Grenzen der heutigen Welt der Ausbeutung und Unterdrückung zu sprengen imstande sind.

II. Die Bürgerliche Revolution
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Wir wollen nun versuchen, die »Dosierung« der Gewalt zwischen den Menschen zu erforschen - der aktuellen, die sich in Schlägen und körperlichen Verletzungen äussert, und der latenten, die durch die komplexe Einwirkung von Strafandrohungen die Unterdrückten unter den Willen der Unterdrücker zwingt. Da es uns zu weit führen würde, alle vorkapitalistischen Gesellschaftsformen unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen, werden wir von einem Vergleich zwischen der Welt des »Ancien Regime«, die der grossen Revolution voranging, und der kapitalistischen Welt, in der wir zu unserer besonderen Freude leben, ausgehen.

Eine erste »klassische« Auffassung stellt die bürgerliche Revolution, die die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einführte (die vor allem in den demokratisch-parlamentarischen Institutionen zum Ausdruck kommen), als eine universelle und nicht zu übertreffende Errungenschaft dar. Sie hätte erstens die Gesellschaft von der alten Unterdrückung befreit, ihr die Freuden einer neuen Welt eröffnet und die Lebensbedingungen aller ihrer Mitglieder wesentlich verbessert. Zum zweiten hätte sie die Perspektive weiterer sozialer Zusammenstösse mit dem Charakter eines gewaltsamen Umsturzes der Institutionen und der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgeschlossen.

Es handelt sich hier um eine unverschämte Apologie der Wonnen des bürgerlichen Systems.

Eine zweite, weniger naive Auffassung gibt zu, dass grosse gesellschaftliche Unterschiede und eine harte ökonomische Ausbeutung der arbeitenden Klassen bestehen bleiben und dass die weiteren Transformationen der Gesellschaft auch einen mehr oder weniger brüsken Charakter annehmen können. Sie behauptet aber kategorisch, dass die Errungenschaften der Revolution, die die Kapitalisten an die Macht brachte, dennoch für alle anderen Klassen einen wesentlichen Vorteil bedeuteten. Diese hätten dadurch ein unschätzbares Gut erhalten, die gesetzlichen bürgerlichen Freiheiten. Es ginge also nur darum, auf einem bereits geebneten Weg fortzuschreiten, um nach den härteren und grausameren Formen von Despotismus und Ausbeutung nunmehr andere überlebende Formen abzuschaffen. Jene ersten, grundlegenden Errungenschaften sollten aber auf jeden Fall erhalten bleiben.

Dieses abgenutzte Schema wird in allen möglichen Varianten aufgetischt. Von den Spitzen der Pyramide herab fühlte sich ein Roosevelt bemüssigt, den bekannten Freiheiten der alten Literatur die neuen Freiheiten, die »Befreiung der Menschen von Not und Furcht«, hinzuzufügen, und dies in einem Augenblick, wo eine Kriegskatastrophe noch nie dagewesener Gewalt die Zahl der ausgerotteten und hungernden Menschen ins Unermessliche steigerte. Auf der Ebene der gewöhnlichen Sterblichen ist es irgendein naiver Held des volkstümlichen Politikantentums, der sich befleissigt, den alten Mischmasch von Demokratie und Sozialismus in neue Worte zu kleiden, und von den gesellschaftlichen Freiheiten redet, die man den bereits sicheren politischen Freiheiten hinzufügen muss.

Es ist wohl nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass die marxistische Auffassung des historischen Prozesses, der zum Sieg des Kapitalismus führte, mit keiner dieser beiden Auffassungen etwas zu tun hat.

Marx hat nie gesagt, dass in der kapitalistischen Gesellschaft Ausbeutung, Unterdrückung und Zwang geringer wären als in der feudalen und agrar-handwerklerischen, er hat vielmehr das Gegenteil ausdrücklich nachgewiesen.

Marx zeigte die historische Notwendigkeit, dass das Proletariat an der Seite der revolutionären Bourgeoisie gegen die Monarchie, den Adel und den Klerus kämpfte; er bekämpfte den »reaktionären Sozialismus«, der die Arbeiter vor der grausamen Ausbeutung, die sich in den Manufakturen und Fabriken der Kapitalisten entfesseln würde, warnte und ein Bündnis des Proletariats mit den herrschenden feudalen Schichten predigte; und der orthodoxe linke Flügel des Marxismus bekannte immer, dass die Strategie des Proletariats in der ersten, nachrevolutionären, historischen Phase der Bourgeoisie in einem entschlossenen Bündnis mit der jungen Jakobinerbourgeoisie bestehen musste. Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen wir aber sofort hinzufügen, dass diese klaren, klassischen Positionen keineswegs von der Voraussetzung diktiert wurden, dass das neue Wirtschaftssystem weniger ausbeuten und unterdrücken würde als sein Vorgänger.

Diese Positionen ergeben sich im Gegenteil aus der dialektischen Geschichtsauffassung des Marxismus. Der Marxismus führt die Kette der Ereignisse auf den Druck der Produktivkräfte zurück, die in ihrem Ausdehnungs- und Neuerungsprozess die herrschenden Formen und Machtapparate zu Krisen und Katastrophen führen.

Wenn die revolutionären Sozialisten seit mehr als einem Jahrhundert die Siege des modernen Kapitalismus und dessen eindrucksvolle, weltweite Ausbreitung verfolgen und darin günstige Voraussetzungen für die Entwicklung der Gesellschaft erblicken, so geschieht dies, weil die wesentlichen Ergebnisse des Kapitalismus - wie die Konzentration der Produktivkräfte (Maschinen und Menschen) in mächtigen Produktionseinheiten, die Verflechtung aller Volkswirtschaften zu einer Weltwirtschaft - die Grundlagen für die Verwirklichung der kommunistischen Gesellschaft (nach weiteren gigantischen Bürgerkriegen) schaffen. Das bleibt wahr und notwendig, auch wenn man genau weiss, dass die moderne, kapitalistische Industriegesellschaft schlimmer und grausamer ist als ihr Vorgänger.

Es ist klar, dass eine Mentalität, die von der bürgerlichen Ideologie gebildet wurde und im Mystizismus der romantischen Periode der demokratisch-liberalen Revolutionen ihre Nahrung findet, diese Schlussfolgerung schwer verdauen kann. Diese These kann beim Spiessbürger mit seinen sentimentalen, literarischen und rhetorischen Kriterien nur eine banale Empörung hervorrufen. »Und die Autodafés, die Inquisition, die Fronarbeit, das Recht des Monarchen und des kleinsten Despoten auf Leben und Tod ihrer Untertanen, das jus primae noctis usw.?« wird er uns sein gelehrtes Sammelsurium von Greueltaten des alten Despotismus entgegenschleudern zum Beweis dafür, dass die vorbürgerlichen Gesellschaften von Gewalt nur so wimmelten und ihre Institutionen von Blut trieften.

Geht man aber wissenschaftlich und statistisch an die Untersuchung; fragt man, wie viel menschliche Arbeit ohne Entgelt ausgepresst wird, um den Privilegierten den Genuss des produzierten Reichtums zu erlauben, wieviel Elend sich an den untersten Stufen der Gesellschaft sammelt, wie viele Menschenleben infolge der Wirtschaftsmisere, der Krisen und Konflikte geopfert und ruiniert werden - ob letztere nun den Charakter von Privatsachen, Bürgerkriegen oder militärischen Zusammenstössen zwischen den Staaten haben -,wird diese zivilisierte, demokratische und parlamentarische bürgerliche Gesellschaft am schlechtesten abschneiden.

Dem empörten Vorwurf, die Kommunisten wollten das Eigentum vernichten, entgegnete Marx - und das ist ein wesentlicher Punkt -,dass einer der grundlegenden Aspekte der sozialen Revolution, die der Kapitalismus vollzogen hat, eben in der gewaltsamen, unmenschlichen Enteignung der Kleinproduzenten bestand.

Vor der Entstehung der grossen Manufakturen und der mechanisierten Fabriken bestand eine wahre, technische und wirtschaftliche Bindung zwischen dem einzelnen (oder dem mit seinen Familienmitgliedern und einigen Gesellen arbeitenden) Handwerker und seinen Werkzeugen und Arbeitsprodukten. Die juristischen Verhältnisse räumten ihm unbegrenztes Eigentumsrecht über seine wenigen Werkzeuge und die beschränkten Produkte seiner Werkstätte ein. Der Kapitalismus sprengte dieses patriarchalische und fast idyllische System, enteignete den geschickten und fleissigen Handwerker, der dann als hungernder Habenichts ins Zuchthaus des modernen bürgerlichen Betriebs verschleppt wurde. Diese Umwälzung vollzieht sich immer unter dem Druck von unabwendbaren ökonomischen Kräften, sehr oft mit offener Gewalt. Sie wird juristisch von den bürgerlichen Ideologen als Eroberung der Freiheit definiert - der Freiheit, die den werktätigen Bürger von den Fesseln der mittelalterlichen Gilde und der Zunftverordnungen erlöste und aus ihm einen freien Menschen in einem freien Staat machte.

So sah die allgemeine Entwicklung im Bereich der Industrieproduktion aus. Nicht anders stellt sich aber für den Marxismus die Entwicklung der Landwirtschaft dar. Die feudale Leibeigenschaft zwang zwar den Bauern dazu, auf einen grossen Teil seiner Produkte zu verzichten und den kirchlichen und adligen herrschenden Schichten abzuliefern. Der Leibeigene behielt aber eine produktionstechnische Bindung zum Boden selbst und zu einem Teil der Produkte. Diese Bindung bot ihm indirekt die Sicherheit eines bequemen und ruhigen Lebens, zumal wenn man bedenkt, dass die Bevölkerungsdichte noch spärlich und die Handelsbeziehungen zu den Städten begrenzt waren.

Die kapitalistische Revolution zerstörte diese Verhältnisse. Sie behauptete, den leibeigenen Bauern von einer Reihe von Zwängen befreit zu haben. Doch wurde der Leibeigene entweder zum reinen Proletarier gemacht, der das Schicksal der Sklavenschar der Industriearbeiter teilt, oder in einen Betriebswirt oder gar im juristischen Sinn in einen Volleigentümer von kleinen Parzellen verwandelt, der vom kapitalistischen Wucher, vom Steuereintreiber oder von der Geldentwertung ruiniert wird.

Es würde den Rahmen dieser Schrift sprengen, auf Einzelheiten einzugehen. Die bisherigen Bemerkungen dürften auch denjenigen genügen, die vortäuschen sollten, zum ersten Mal zu hören, dass für Marx die neue, bürgerliche Gesellschaft noch grausamer ist als die feudale.

Der wesentliche Punkt, den man festhalten muss, ist folgender: das entscheidende Kriterium, um eine historische Entwicklung zu unterstützen oder zu bekämpfen, besteht nicht in der Einschätzung, ob mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit erreicht und verwirklicht werden. Ein solches Kriterium ist leer und rein literarisch. Ganz anders, und oft im Gegensatz dazu, steht die wirkliche Frage: wird die neue Lage die Verbreitung und Potenzierung der gesellschaftlichen Produktivkräfte ermöglichen und vorantreiben, der Kräfte also, die die unerlässliche Voraussetzung einer zukünftigen Organisation der Gesellschaft im Sinne einer grösseren Ergiebigkeit der Arbeit zugunsten aller bilden?

Es war nicht nur nützlich, sondern auch notwendig, dass die Bourgeoisie den Bürgerkrieg gegen die institutionellen Hindernisse führte, die der Entstehung der grossen Fabriken und einer modernen Landwirtschaft im Weg standen. Demgegenüber zählt es wenig, ob die erste, unmittelbare und in einem weiteren historischen Sinn vorübergehende Folge darin bestanden hat, den sozialen Unterschied und die Ausbeutung der Arbeitskraft noch drückender und verhasster zu machen.

• • •

Der wissenschaftliche Sozialismus hat kritisch herausgestellt, dass die grosse soziale Transformation, die der Kapitalismus durchgeführt hat (eine Transformation, die historisch reif war und ihrerseits grossartige Entwicklungen im Schosse trägt) keineswegs als radikale Befreiung der grossen Massen oder als spürbare Hebung ihres Lebensstandards definiert werden kann. Die Verwandlung der Institutionen betrifft lediglich die Aufteilungs- und Organisationsform der kleinen, privilegierten und herrschenden Minderheit.

Die Mitglieder der vorbürgerlichen privilegierten Klassen waren auf der Grundlage eines festen Hierarchienetzes untereinander verbunden. Die grossen Prälaten gehörten dem sehr gut geordneten und äusserst festgefügten Netz der Kirche an. Die Adligen, die gleichzeitig die höchsten zivilen und militärischen Beamten lieferten, waren im Feudalsystem, dessen Spitze der Monarch bildete, hierarchisch organisiert.

Und wie sieht es im neuen Gesellschaftstyp aus, wobei wir hier wohlgemerkt alle sonst äusserst wichtigen zeitlichen und nationalen Unterschiede beiseite lassen, um uns auf die erste, klassische Phase der bürgerlichen Gesellschaft zu konzentrieren, die sich ökonomisch durch die unbegrenzte Produktions- und Handelsfreiheit kennzeichnete? Die Mitglieder der höchsten und privilegierten Schicht sind fast gänzlich frei von gegenseitigen Bindungen: jeder Kapitalist kann seine Unternehmungen und Geschäfte ohne Rücksicht auf Verpflichtungen gegenüber seinen Kollegen und Konkurrenten führen.

Diese technische und soziale Umwälzung zeigt sich in der Ideologie als eine historische Wendung von der Welt der Autorität zu der Welt der Freiheit.

Es ist aber klar, dass diese Errungenschaft, dieser aufsehenerregende Szenenwechsel, nicht die Gesamtheit der Gesellschaft als Bühne hat, sondern das enge Pult, wo sich die Reichen, die Kategorie der vollen Mägen und gespickten Taschen, begleitet vom engen Kreis ihrer Agenten und Handlanger - Politikmacher, Publizisten, Priester, Professoren, hohe Beamte und dgl. - bewegt.

Die grosse Masse der halbleeren Mägen bleibt diesem grossen Drama nicht fern, vielmehr nimmt sie am Kampf mit Lebens- und Blutopfern teil. An den Vorteilen der Umwandlung wird sie aber nicht beteiligt.

Die juristische Eroberung der Freiheit, die in allen Verfassungen als Höchstgut aller Bürger verkündet wird, betrifft also nicht die Mehrheit, die noch mehr ausgebeutet und ausgehungert wird als früher, sondern ist innere Angelegenheit einer Minderheit. Im Lichte dieses Kriteriums sind alle historischen und aktuellen Fragen zu lösen, bei denen die langweilige, um nicht zu sagen widerwärtige, Forderung der Freiheit und Demokratie wieder gestellt wird.

Da das Gehirn nur arbeitet, wenn der Magen gefüllt ist, bedeutet die materialistische These auf der Ebene des Individuums, dass das theoretische Recht, frei zu denken und die eigenen Gedanken frei zu äussern, in der Tat lediglich diejenigen tangiert, die die Möglichkeit einer solchen höheren Tätigkeit haben. Die Fähigkeit dazu kann man ohne weiteres vielen absprechen, die sich ihrer dauernd rühmen, auf jeden Fall ist die Möglichkeit aber der Schar der unzureichend gefüllten Mägen verwehrt.

In ihrer Unverblümtheit entfesselt diese These gewöhnlich die Schmähungen gegen den platten und obszönen Materialismus: Pfui! Da ist nur von Wirtschaft und Nahrung die Rede. Wo bleibt der leuchtende Bereich des geistigen Lebens? Und die ganze Befriedigung, die nicht auf physische Reize zurückzuführen ist, die der Mensch in der Vernunft, in den zuerkannten Bürgerfreiheiten, im Genuss der Bürgerrechte, in der Wahl seiner Vertreter und der Staatsoberhäupter finden sollte?

In dieser Hinsicht müssen wir auf die wirkliche Bedeutung der marxistischen Auffassung des ökonomischen Determinismus hinweisen, zumal hier in der Tat keine Neuheiten ausgebreitet, sondern höchstens unsere altbekannten Theorien anhand neuer Tatsachen nachgeprüft und bestätigt werden.

Eine verbreitete Entstellung, die schwieriger zu heilen ist als Räude und gewisse ansteckende Krankheiten, führt das Problem auf die kleinliche individuelle Stufe zurück. Danach soll jedes Individuum dazu neigen, in Politik, Philosophie und Religion Meinungen zu vertreten, die sich aus seinen ökonomischen Lebensverhältnissen ergeben und mechanisch seinen Bedürfnissen und Interessen entspringen. Der Grossgrundbesitzer wäre fromm, reaktionär und rechts; der bürgerliche Geschäftemacher konservativ in der Wirtschaft, aber nicht selten - mindestens bis gestern - politisch und philosophisch »progressiv«; der Mann des Mittelstandes mehr oder weniger demokratisch; der Arbeiter schliesslich materialistisch, sozialistisch und revolutionär.

Ein solcher Marxismus für demokratisch-bürgerlichen Spiessbürgergebrauch eignet sich sehr gut zu optimistischen Feststellungen, dass die Arbeiter, die ja ökonomisch unterdrückt sind und die grosse Mehrheit des Volkes darstellen, sehr bald die repräsentativen und exekutiven Organe und, immer auf denselben Wege fortschreitend, den Reichtum und das Kapital an sich reissen werden. Es versteht sich, dass sich ein solches Karussell um so schneller bewegen wird, je mehr man die Meinungen, Glaubensbekenntnisse und politischen Organisationen nach links schieben kann. Dafür gibt es auch ein Patentrezept: Zusammenwürfelung mit dem ganzen Sumpf der Mittelschichten, die sich angeblich immer mehr entwickeln und gegen die Politik und das Privileg der oberen Klassen auflehnen.

Der Marxismus hat mit dieser traurigen Karikatur nichts zu tun. Wenn er von ideologischem, politischem und religiösem Überbau redet, der sich aus der materiellen Grundlage und den Produktionsverhältnissen erklärt, handelt es sich um ein Gesetz und um eine Methode auf allgemeinem, sozialem Massstab. Um die Ideologien zu erklären, die unter einem Volk, das mit einem bestimmten Regime regiert wird, in einer bestimmten historischen Epoche vorherrschen, muss man vom Stand der Produktivkräfte, von den Verhältnissen der Reichtums- und Produktenverteilung, von den Klassenverhältnissen zwischen privilegierten Gruppen und Produzentengemeinschaft ausgehen.

Um es kurz und in einfachen Worten auszudrücken: das Gesetz des ökonomischen Determinismus besagt, dass in jeder Epoche die Meinung allgemein vorherrscht, die politische, philosophische und religiöse Anschauung am höchsten angesehen und einflussreich ist, die den Interessen der herrschenden Minderheit, die in ihren Händen das Privileg und die Macht hält, entspricht. So haben die Priester und Gelehrten der alten orientalischen Völker den Despotismus und das Menschenopfer gerechtfertigt, die der Heiden die Wohltat und Gerechtigkeit der Sklaverei bewiesen, die des Christentums Eigentum und Monarchie, die des demokratischen und aufklärerischen Zeitalters die wirtschaftlichen und juristischen Verhältnisse gepriesen, die dem Kapitalismus entsprechen.

Wenn eine Gesellschafts- und Produktionsform in Krise gerät, wenn sich im Bereich der Technik und Produktion Kräfte zusammenballen, die sie zu sprengen drohen, brechen die Klassenzusammenstösse akuter aus und spiegeln sich auch in der Entstehung neuer, oppositioneller und revolutionärer Lehren wider, die von den herrschenden Institutionen verurteilt und bekämpft werden. Eins der Kennzeichen der Phase, die sich mit einer Gesellschaftskrise eröffnet, ist die zunehmende relative Abnahme des Personenkreises, der am bestehenden Regime Vorteile hat. Dennoch setzt sich die revolutionäre Ideologie nicht in der ganzen Masse durch, sondern nur in einer Avantgarde dieser Masse, zu der sogar Mitglieder der herrschenden Klasse überlaufen. Durch historische Trägheit und aufgrund der ungeheuren Mittel zur Meinungsbildung, über die jede herrschende Klasse verfügt, wird die Masse erst im Laufe einer langen Periode nach dem Sturz der alten Machtstrukturen ihre Ideologie, Philosophie und Religion ändern.

Wir behaupten also, dass eine Revolution wirklich reif ist, sobald die Unhaltbarkeit der Produktionsverhältnisse sich als reale, materielle Tatsache äussert, die die unterdrückten Massen, aber auch Teile der herrschenden Schichten, zum Kampf gegen die materiellen Interessen der privilegierten Klasse führt, obwohl die unter den ausgebeuteten Massen und den Trägern des Regimes herrschende Meinung in ihrer ungeheuren reaktionären Trägheit fortfährt, die alten traditionellen Sprüche wiederzukäuen.

So brach die Sklaverei trotz des hartnäckigen ideologischen und materiellen Widerstandes zusammen, als sie sich wenig ergiebig als System der Ausbeutung der Arbeit und wenig vorteilhaft für die Besitzenden erwies.

Kurz, die Befreiung einer unterdrückten Klasse vollzieht sich also nicht zuerst im Geist und dann im Leib, sondern sie muss den Leib vor dem Geist befreien.

Nun, die Kräfte zur ideologischen Mobilisierung der Massen im Interesse der privilegierten Klasse sind in der kapitalistischen Gesellschaft viel mächtiger als in den vorbürgerlichen Gesellschaften. Schule, Presse, öffentliche Reden, Rundfunk, Film, alle Art von Vereinigungen sind Mittel, die hundertmal mächtiger sind als die, worüber die Gesellschaft vergangener Jahrhunderte verfügte. Unter dem Kapitalismus sind Gedanken Waren und werden entsprechend erzeugt; Anlagen und Geldmittel werden bereitgestellt, um ihre Serienfertigung zu ermöglichen. Wenn Deutschland ein Propagandaministerium und Italien ein Ministerium für die Volkskultur hatten, so hat Grossbritannien gleich zu Kriegsbeginn das Informationsministerium gebildet, um das ganze Nachrichtenwesen zu monopolisieren und zu disziplinieren. Bereits nach dem ersten Weltkrieg gab es ein Weltmonopol der englischen Nachrichtenagenturen. Heute liegt dieses Monopol selbstverständlich auf der anderen Seite des Ozeans. Solange die Kriegsereignisse zugunsten der Deutschen liefen, erreichte die englische Tagesproduktion von Flausen und Lügen einen Umfang, der bei den faschistischen Organisationen nur blassen Neid erwecken musste. Um eine einzige zu nennen: in der Zeit der unglaublichen deutschen Militäroperationen, um Norwegen in 48 Stunden zu erobern, lieferte der englische Rundfunk weltweit alle Einzelheiten einer verheerenden Niederlage der deutschen Flotte im Skagerrak!

Die zentrale Manipulierung der Ideen fängt bei den falschen Meldungen an. Im heutigen Nachrichtenwesen liegen die Fassungen eines Ereignisses ausgearbeitet vor, noch bevor es sich abgespielt hat. Auch wenn es scheint, dass einer der Informationsträger Recht hatte, handelt es sich um eine Lüge. Es war das arme Ereignis, das sich im Einklang mit den Interessen dieses oder jenes Staates dieser oder jener Partei zu verhalten hatte. Und dies geht bis zur vorgefassten Kritik und Meinung. Dieser soziale Faktor ist nicht zu unterschätzen. Er reiht sich ein in die Masse latenter Gewalt, d.h. in die unzählige Reihe jener Gewaltakte, die nicht den Charakter eines brutalen Druckes mit Zwangsmethoden annehmen, dennoch Ergebnis und Entfaltung wirklicher Kräfte sind, die gegebene Situationen verformen und verschieben.

Obwohl er mit der Entfesselung »kinetischer« Polizei- und Kriegsgewalt nicht spasst und auch unter diesem Gesichtspunkt die verrufenen alten Herrschaftsformen bei weitem schlägt, steigert der moderne Typ bürgerlich-demokratischer Gesellschaft auch die Anwendung virtueller Gewalt auf einen unerhörten Umfang, der nur mit seinen Höchstleistungen in der Produktion und in der Konzentration des Reichtums vergleichbar ist. Aus anscheinend freier Meinungsbildung und Glaubensbekenntnis treten daher Gruppen aus der Masse als Agenten gegen die eigenen Interessen auf und akzeptieren die theoretischen Rechtfertigungen für gesellschaftliche Verhältnisse und Handlungen, die sie ins Elend stürzen, wenn nicht überhaupt zerstören.

Die Ersetzung der vorbürgerlichen Formen durch die heutige Gesellschaft hat also die Rolle des Unterdrückungs- und Zwangsfaktors nicht verringert, sondern dem Umfang und der Häufigkeit nach gesteigert. Wenn die Marxisten aus den bereits genannten Gründen forderten, dass diese historische Umwälzung radikal und vollständig sein muss, wollten sie dadurch keineswegs diese grundlegende Einschätzung relativieren oder ihr widersprechen.

Heute stellt sich das brennende Problem einer Veränderung der bürgerlichen Verwaltungs- und Regierungsformen, der Erscheinung totalitärer und faschistischer Diktaturregimes. Dieses Problem ist lediglich in Übereinstimmung mit den hier festgesetzten Kriterien zu beurteilen und zu lösen.

Die angesprochene Veränderung besteht nicht in einer Ablösung der herrschenden Klasse und noch weniger in einer revolutionären Sprengung der Produktionsweise. Um so mehr muss man bei ihrer kritischen Untersuchung die banalen Fehler vermeiden, die im Einklang mit den sehr bekannten und hier widerlegten Abweichungen des Marxismus dazu verleiten würden, der demokratisch-parlamentarischen Phase eine geringere Intensität und Dichte der Klassengewalt gutzuschreiben.

Auch wenn diese Einschätzung den Tatsachen entsprechen sollte, würde sie keineswegs ausreichen, um die Befürwortung und Verteidigung dieser Phase zu rechtfertigen. Dafür gibt es dialektische Gründe, die wir bei der Beurteilung früherer Wenden bereits erläuterten. Dennoch kann man auch anhand der Untersuchung dieses Punktes beweisen, dass es notwendig ist, sich der Blendung durch die entfesselte Gewalt zu entziehen, um den Gesamtumfang auch der latenten Gewalt zu betrachten, die das Leben und die Dynamik der Gesellschaft durchdringt. So kann man den Fehler vermeiden, der heuchlerischen Methode und stickigen Atmosphäre der liberalen Demokratie, und sei es auf Umwegen und in relativer Form, den Vorzug zu geben.

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III. Die Bürgerliche Herrschaft
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In dieser Schrift wird die Tragweite der Gewaltanwendung in den gesellschaftlichen Verhältnissen untersucht. Dabei unterscheidet man zwischen den offensichtlichen Gewalterscheinungen bis zum Blutbad, und dem Zwang, der sich infolge von Strafdrohungen oder durch eine Bereitschaft des Opfers, die auf ihm lastenden Normen anzuerkennen, mannigfaltig durchsetzt, ohne bei der betroffenen Person oder Gruppe materiellen Widerstand hervorzurufen.

Im ersten Teil zogen wir einen Vergleich zwischen diesen beiden Erscheinungsarten der Energie in der Gesellschaft und den beiden Formen, in denen die Energie in der Natur zum Ausdruck kommt: die aktuelle, kinetische oder Bewegungsenergie, die mit dem Zusammenstoss und dem Ausbruch der verschiedensten Kräfte einhergeht; und die latente, potentielle oder Lageenergie, die wohl keine solchen Erscheinungen hervorruft, jedoch gleichfalls in der Welt der betreffenden Ereignisse und Verhältnisse eine äusserst wichtige Rolle spielt.

Wir haben diesen Vergleich vom Gebiet der Physik zur Biologie bis zum Menschen geführt und mit kurzen Beispielen im Laufe der geschichtlichen Epochen bis zur heutigen, bürgerlichen, kapitalistischen Zeit weiterverfolgt. Wir haben bewiesen, dass im Kapitalismus Kraft und Gewalt in den ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen zwischen den einzelnen Individuen und vor allem zwischen den Klassen nicht nur eine enorme und entscheidende Rolle spielen, sondern dass sie - auch wenn man hier nicht von mathematischen Messungen reden kann - viel häufiger und breiter wirken als in den vorhergehenden Epochen und in den vorkapitalistischen Gesellschaften.

Man könnte in einer breiter angelegten Untersuchung auf sozial-ökonomische Messungen zurückgreifen und die Ausbeutung der Arbeitskraft der grossen Massen zum Nutzen der privilegierten Klassen in Zahlen ausdrücken. In der modernen Gesellschaft nimmt der Anteil der Individuen und Gruppen, die in einem geschlossenen ökonomischen Kreislauf leben und ohne Beziehungen zur Aussenwelt ihre eigene Produktion verbrauchen, ständig ab. Die Zahl der Menschen, die auf fremde Rechnung schuften und deren Arbeit nur zum Teil entlohnt wird, steigt im Gegenteil steil an. Dasselbe gilt für den gesellschaftlichen Abstand zwischen dem Lebensstandard der grossen Mehrheit der Werktätigen und dem Lebensstandard der besitzenden Klassen. Was zählt, ist in der Tat nicht die vereinzelte Existenz eines oder mehrerer grosser Herrscher, die im Luxus leben, sondern die Masse an Reichtum, die eine soziale Minderheit für alle möglichen verschwenderischen Zwecke bestimmen kann, während die Mehrheit kaum mehr als das Lebensnotwendige erhält.

Da sich unser Thema mehr der politischen als der ökonomischen Seite der Frage widmet, müssen wir uns in Bezug auf das kapitalistische Privilegien- und Herrschaftssystem folgende Frage stellen: Welches Verhältnis besteht zwischen der Anwendung nackter Gewalt und der Anwendung latenter Gewalt, die es soweit bringt, die Unterdrückten in Respekt vor den bestehenden Sitten, Bestimmungen und Gesetzen zu beugen, ohne dass es zum Verstoss oder zur Revolte kommt?

Dieses Verhältnis ändert sich erheblich mit den verschiedenen Phasen des Kapitalismus; es ist auch aus historischen Gründen von Land zu Land anders. Es gibt Beispiele für neutrale und fast idyllische Zonen, wo man sich besonders rühmt, dass die Staatsmacht von allen Mitbürgern freiwillig akzeptiert wird, wo der Polizeiapparat verhältnismässig klein bleibt, wo selbst die sozialen Interessenkonflikte zwischen Arbeitern und Arbeitgebern mit dem Einsatz friedlicher Mittel ausgetragen werden. Solche schweizerischen Zustände verschwinden jedoch immer mehr aus dem Weltbild des Kapitalismus, werden zu immer kleineren, kurzlebigeren Oasen.

Als der Kapitalismus in der Geschichte auftauchte, konnte er seine Stellungen nicht ohne offene und blutige Kämpfe erobern, da die Fesseln, die in den Staatsapparaten der alten Regimes bestanden, nur mit Gewalt gesprengt werden konnten. Seine Ausbreitung in den aussereuropäischen Kontinenten, mit den kolonialen Feldzügen und den Eroberungs- und Raubkriegen, war nicht weniger blutig; denn nur mit blutigen Gemetzeln konnte man die gesellschaftliche Organisationsweise der einheimischen Bevölkerungen durch die kapitalistische ersetzen. In einigen Fällen wurden sogar ganze Völker ausgerottet, was sich in den vorbürgerlichen Zivilisationen niemals ereignet hatte.

Nach dieser gewaltsamen Entstehungs- und Durchsetzungsphase des Kapitalismus eröffnete sich im allgemeinen eine Zwischenperiode, wo die tagtäglichen gesellschaftlichen Zusammenstösse, die Unterdrückung der Bewegung der ausgebeuteten Klassen und die Kriege zwischen den Staaten zwar nicht aufhörten, jedoch nicht die ganze bekannte Welt miteinbezogen. Diese Entwicklungsphase eignete sich deshalb am besten für die liberale und demokratische Verherrlichung des bürgerlichen Regimes, das als eine Welt vorgegaukelt wurde, in der - abgesehen von Ausnahmen und pathologischen Fällen - die Beziehungen zwischen den Einzelnen und Gruppen sich mit einem Höchstmass an Ordnung, Frieden, spontaner Übereinstimmung und freiwilligem Einverständnis abspielten.

Dazu eine kurze Nebenbemerkung. Spricht man von den »Ausnahmen« der kolonialen und nationalen Kriege, der Revolten, der Erhebungen, der Repressionen, die auch in den ruhigsten und reibungslosesten Phasen der bürgerlichen Geschichte das Anwendungsgebiet der offen entfesselten Gewalt darstellen, so muss man auch das technische Element mit in Betracht ziehen, das wirklich die Bezeichnung »fortschrittlich« verdient: Blutvergiessen und Opferzahl nehmen im Vergleich zu den Krisen der Vergangenheit und bei sonst gleichbleibenden Bedingungen tendenziell zu. In der Tat wird der Fortschritt der Produktionsmittel von der Potenzierung immer schrecklicherer Angriffs- und Zerstörungswaffen begleitet. Die Lücken, die die Prätorianer mit ihren Schwertern unter den Meuterern gegen Cäsar zu säen vermochten, waren nichts im Vergleich zu dem, was das Maschinengewehr gegen die Rebellen des modernen Zeitalters anrichtet.

Worauf es uns hier ankommt, ist zu zeigen, dass auch in langen Phasen unblutiger kapitalistischer Herrschaft die Klassengewalt keineswegs verschwindet. In diesen Phasen ist ihre virtuelle Zwangseinwirkung gegen mögliche Ausschreitungen Einzelner, organisierter Gruppen oder Parteien der bestimmende Faktor für die Erhaltung der Privilegien und Institutionen der herrschenden Klasse. Wie bereits erwähnt, gehört nicht nur der Staatsapparat mit seinen Streitkräften und der Polizei (auch wenn diese in den Kasernen bleiben) zu den Manifestationen dieser Klassengewalt, sondern auch der ganze Apparat der ideologischen Mobilisierung zur Rechtfertigung der bürgerlichen Ausbeutung: Schule, Presse, Kirche und alle anderen Mittel der Meinungsbildung. Diese Epoche anscheinender Ruhe wird nur zuweilen durch harmlose Demonstrationen der Organisationen der Arbeiterklasse gestört, und der brave Bürger kann nach der 1.-Mai-Kundgebung befriedigt sagen: »Gott und Polizei haben es geschafft, auch diesmal ist es vorbei«. Sobald aber die soziale Unruhe drohender ihr Murren vernehmen lässt, beginnt der bürgerliche Staat, durch Massnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung seine Macht zu zeigen. Ein Fachausdruck der Staatspolizei drückt die latente Gewaltanwendung sehr plastisch aus: »Polizei und Streitkräfte sind in Bereitschaft zu halten.« Das heisst, man kämpft noch nicht auf den Strassen; wenn aber die bürgerliche Ordnung und die Unternehmerrechte bedroht wären, würden die Streitkräfte aus der Bereitschaft zur Tat übergehen und das Feuer eröffnen.

Die revolutionäre Kritik lässt sich nicht durch den Schein von Zivilisation und von ungetrübtem Gleichgewicht der bürgerlichen Ordnung bezaubern. Sie hat von vornherein festgestellt, dass auch in den demokratischsten aller Republiken der politische Staat den Interessenausschuss der herrschenden Klasse bildet. So hat sie auch endgültig mit den dämlichen Vorstellungen aufgeräumt, wonach seit der Zertrümmerung des alten feudalen, klerikalen und autokratischen Staates dank der parlamentarischen Demokratie eine Staatsform entstanden sei, in der alle Gesellschaftsmitglieder, unabhängig von ihrer ökonomischen Lage, mit gleichen Rechten vertreten und geschützt sind.

Der politische Staat, auch und vor allem der demokratisch-parlamentarische Staat, ist ein Unterdrückungswerkzeug. Man kann ihn recht gut vergleichen mit einem Speicher der Unterdrückungsenergien der ökonomisch privilegierten Klasse, geeignet, diese Energien in Zeiten, wo die soziale Revolte nicht zum Ausbruch neigt, im potentiellen Zustand zu halten; aber vor allem dazu geeignet, diese Energien in Form von Polizeirepression und blutiger Gewalt zu entfesseln, sobald revolutionäre Beben aus dem gesellschaftlichen Untergrund aufsteigen.

Das ist der Sinn der klassischen Untersuchungen von Marx und Engels über die Verhältnisse zwischen Gesellschaft und Staat, d.h. zwischen Gesellschaftsklassen und Staat. Alle Versuche, diese kardinalen Punkte der proletarischen Klassenlehre aus den Angeln zu heben, scheiterten an der Wiederherstellung der revolutionären Positionen durch Lenin, Trotzki und die Kommunistische Internationale gleich nach dem ersten Weltkrieg.

Es hat keinen wissenschaftlichen Sinn, ein bestimmtes Energiepotential festzustellen, wenn man nicht gleichzeitig voraussagt, dass sich diese Energie in einer anderen Situation kinetisch entfesseln wird. Die marxistische Definition der Natur des politischen Staates der Bourgeoisie hätte ihrerseits auch keinen Sinn und keine Folgen, wenn sie nicht der Überzeugung entsprechen wurde, dass dieses Machtorgan des Kapitalismus auf jeden Fall in der äussersten Phase alle seine Mittel gegen das Hervorbrechen der proletarischen Revolution einsetzen wird.

Andererseits konnte der marxistischen These über die wachsende Verelendung, über die Akkumulation und Konzentration des Kapitals, auf politischer Ebene nichts anderes entsprechen als eine Konzentration, eine Potenzierung der Energien des Staatsapparates. Und in der Tat: während sich die Wirtschaft in Richtung auf das Monopol und auf die aktive Intervention des Staates in die Wirtschaftssphäre und in die sozialen Kämpfe entwickelte, wurde mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 die betrügerisch pazifistische Phase des kapitalistischen Zeitalters abgeschlossen. Vor allem durch die klassische Untersuchung Lenins wurde offensichtlich, dass der politische Staat der Bourgeoisie immer entschiedener die Form einer straffen Herrschaft und einer polizeilichen Unterdrückung annimmt. Wir haben in anderen Veröffentlichungen dieser Zeitschrift erklärt, dass die dritte und modernste Phase des Kapitalismus in der Wirtschaft als monopolistisch und planwirtschaftlich-dirigistisch, und in der Politik als totalitär und faschistisch zu definieren ist.

Als die ersten faschistischen Regimes aufkamen, wurden sie von einer kurzsichtigen und banalen Interpretation als eine Verminderung und Abschaffung der sogenannten parlamentarischen und verfassungsmässigen Garantien aufgefasst.

In Wirklichkeit handelte es sich in gewissen Ländern ganz einfach um einen Übergang der politischen Unterdrückungsenergie der kapitalistischen Klasse vom latenten zum kinetischen Zustand.

Die Revisionisten hatten die marxistische Perspektive »Zusammenbruchstheorie« genannt und wollten sie entfernen, um die revolutionäre Klassenbewegung theoretisch zu kastrieren. Für jeden Anhänger der marxistischen Perspektive war aber eindeutig klar, dass die wachsende Zuspitzung der Klassengegensätze von der Konfrontation der ökonomischen Interessen auf die Ebene des revolutionären Angriffs der proletarischen Organisationen gegen den kapitalistischen Staat führen würde, und dass dann auch der Staat seine Kanonen abdecken und den äussersten Kampf für seine eigene Erhaltung aufnehmen würde.

In bestimmten Ländern und in bestimmten Situationen, wie z.B. 1922 in Italien und 1933 in Deutschland, kam es zu einer solchen Zuspitzung der Spannung in den sozialen Verhältnissen, zu solchen Schwankungen in der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur, und infolge der Kriegsergebnisse zu einer solchen Krise des Staatsapparates überhaupt, dass die herrschende Klasse den unvermeidlichen Augenblick herannahen sah, wo der ganze Betrug der demokratischen Propaganda abgewirtschaftet hätte und die Lösung dann nur noch vom gewaltsamen Zusammenstoss der antagonistischen Klassen hervorgehen könnte.

Was sich dann ereignete, wurde zurecht als Offensive des Kapitals bezeichnet. Die Bourgeoisie, die bis dahin in der vollen Entwicklung der ökonomischen Ausbeutung hinter der anscheinenden Gutmütigkeit und Toleranz ihrer parlamentarischen Institutionen zu schlummern schien, zeigte dann, welchen hochbeachtlichen Grad an geschichtlicher Strategie sie in Wirklichkeit erreicht hatte.

Wohlüberlegend, dass es günstiger war, aus ihren Bastionen vorzurücken und eine Angriffsaktion zur Zerstörung der proletarischen Ausgangspositionen und Organisationen zu entfesseln, als ihre eigene Festung, den Staat, gegen den Angriff der Revolution (die nach Marx und Lenin den Staat nicht besetzen, sondern mit äusserster Konsequenz in Stücke schlagen wird) verteidigen zu müssen, ging die Bourgeoisie zur Tat über und ergriff die Initiative.

Es handelte sich also um eine knappe Vorwegnahme einer Situation, die in der revolutionären Perspektive klar vorhergesehen war. Die marxistischen Kommunisten hatten nie daran gedacht, ohne den äussersten.Zusammenstoss zwischen den entgegengesetzten Klassenkräften zur Verwirklichung ihres Programms übergehen zu können. Zudem liessen alle Untersuchungen der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus und das monströse Aufblähen seiner Staatsorganisationen zu gigantischen Apparaten klar erkennen, dass diese Perspektive unabwendbar war.

Der grosse strategische und taktische Einschätzungsfehler, der den Sieg der Konterrevolution begünstigte, bestand darin, diese mächtige Verlagerung des Kapitalismus vom Boden der demokratischen Heuchelei auf den Boden der offenen Gewaltaktion als eine historisch umkehrbare Bewegung zu missdeuten; er lag darin, auf diese Verlagerung nicht mit der Forderung nach Zerschlagung der kapitalistischen Macht reagiert zu haben, sondern statt dessen mit dem idiotischen und harmlosen Verlangen, der Kapitalismus möge bitte seinen historischen Weg, den historischen Weg, den wir Marxisten im voraus entlarvt hatten, rückwärts laufen, er möge bitte zur persönlichen Bequemlichkeit von kabarettistischen und feigen politischen Führern so nett sein, seine Klassenwaffen wieder zurückzustecken und auf die leere und überholte Position der Mobilisierung ohne Krieg, auf die wohlgefälligen Seiten der vorhergehenden Periode zurückweichen.

Das grundlegende Missverständnis bestand darin, sich zu wundern, zu jammern, zu bedauern, dass die Bourgeoisie ihre totalitäre Diktatur ohne Maske ausübte, wo wir uns doch vollkommen darüber im klaren waren, dass diese Diktatur schon immer existiert hatte, dass der Staatsapparat immer - ob latent oder offen - die spezifische Funktion erfüllt hatte, Macht und Privilegien der bürgerlichen Minderheit durchzusetzen, zu erhalten und vor der Revolution zu schützen. Das Missverständnis bestand darin, einer faschistischen Atmosphäre eine bürgerlich-demokratische Atmosphäre vorzuziehen: dadurch verschob man die Kampffront von der Forderung der proletarischen Machteroberung zu der einer illusorischen Wiederherstellung demokratischer Regierungsformen des Kapitalismus.

Der tödliche Irrtum bestand darin, nicht zu begreifen, dass am so viele Jahrzehnte erwarteten Vorabend der Revolution der proletarische Vormarsch auf jeden Fall einen abwehrbereiten, bewaffneten bürgerlichen Staat vorfinden würde. Solch eine Situation musste folglich als Fortschritt aufgefasst werden und nicht als Rückschritt im Vergleich zu den Jahren scheinbaren sozialen Friedens und beschränkter Kampflust des Proletariats.

Der Schaden, der der Entfaltung der revolutionären Energien und den Aussichten auf die Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft zugefügt wurde, hing nicht davon ab, dass die faschistisch organisierte Bourgeoisie bei der Verteidigung ihrer Privilegien mächtiger und schlagkräftiger wäre als die noch demokratisch organisierte. Macht und Klassenenergie sind in beiden Fällen gleich. In der demokratischen Phase handelt es sich um potentielle Energie; über den Kanonenmündungen steckt die harmlose Stoffhülle. In der faschistischen Phase erscheint die Energie in kinetischem Zustand, die Hülle wird entfernt, der Schuss abgefeuert. Die Verräter des Proletariats richten an den ausbeutenden und unterdrückenden Kapitalismus die defätistische und idiotische Forderung, die trügerische Hülle wieder über die Waffenmündung zu streifen. Dadurch wird aber die Wirkungskraft von Unterdrückung und Ausbeutung nicht vermindert, sondern durch das wiederaufgefrischte Hilfsmittel des legalitären Betrugs nur noch vergrössert.

Da es noch unsinniger wäre, den eigenen Feind darum zu bitten, er möge die Waffen niederlegen, muss man mit Freude die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass er in der dringenden Zwangslage seine Waffen aufdeckt, denn so wird es weniger schwer sein, dem Feind entgegenzutreten und ihn zu besiegen.

Die offene Diktatur ist folglich eine unausbleibliche und vorhergesehene Phase im historischen Leben des Kapitalismus. Er wird nicht krepieren, ohne sie erlebt zu haben. Für die Verhinderung dieses offenen Ausbruchs gegensätzlicher Klassenenergien zu kämpfen, eine leere Propaganda und Phrasendrescherei im Geiste einer dummen prinzipiellen Abscheu vor der Diktatur zu betreiben, bedeutet, ausschliesslich zu Gunsten des Überlebens des kapitalistischen Regimes, zu Gunsten einer Fortdauer der Knechtung und Unterdrückung der Arbeiterklasse zu arbeiten.

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Eine weitere, wohlbegründete Schlussfolgerung - die auch geeignet ist, alle Gänse der bürgerlichen Linke entrüstet zum Schnattern zu bringen - ist, dass beim Vergleich zwischen den beiden kapitalistischen Phasen von Demokratie und Totalitarismus die Summe der Klassenunterdrückung in der ersten höher ist. Dabei bleibt natürlich unbestritten, dass die herrschende Klasse immer bestrebt ist, die Unterdrückungsform zu wählen, die zu ihrer Erhaltung am geeignetsten ist. Der Faschismus entfesselte zweifellos mehr Polizei und Repressionsgewalt, wo auch Blut vergossen wurde. Sieht man aber von den wenigen authentischen Führern und revolutionären Kadern der Arbeiterbewegung ab, so störte diese Anwendung kinetischer Energie vor allem eine Schicht von halbbürgerlichen Politikanten, die sich als progressiv und arbeiterfreundlich aufspielten, in Wirklichkeit aber nur die für den Dienst in Zeiten parlamentarischer Komödie spezialisierte Miliz der Kapitalisten sind.

Jene, die es nicht schaffen, rechtzeitig Stil und Livree zu wechseln, werden mit einem Fusstritt beiseite geschafft: aus ihrer Ecke kommt das grösste Gekreisch.

Was die Masse der Arbeiterklasse betrifft, so wird sie weiterhin ausgebeutet wie sie es auf ökonomischer Ebene immer gewesen ist; und sobald die Vorhut, die sich in ihrer Mitte zum Angriff gegen das bestehende Regime herausbildet, den richtigen antilegalitären Aktionsweg einschlägt, wird sie genauso verfolgt wie unter den bürgerlichen demokratischen Regierungen. Für die Verfolgungen gibt es Tausende von Beispielen seitens der Republikaner in Frankreich 1848 und 1873, der Sozialdemokraten in Deutschland 1919 usw.

Im Vergleich zum klassischen uneingeschränkten Freihandel, der nunmehr endgültig der Vergangenheit angehört, stellt die neue, planwirtschaftlich-dirigistische Methode der kapitalistischen Wirtschaftsführung jedoch eine Form von Selbsteinschränkung des Kapitalismus dar. Die Auspressung von Mehrwert wird dadurch auf ein Durchschnittsniveau gebracht. Die so viele Jahrzehnte lang von den Rechtssozialisten verfochtenen reformistischen Linderungsmassnahmen kommen nun zur Anwendung, wodurch die krassesten und extremsten Spitzen der kapitalistischen Ausbeutung abgebrochen werden, während die materielle Sozialfürsorge immer mehr ausgebaut wird. Das alles läuft darauf hinaus, die Zusammenstösse zwischen den Klassen und den Ausbruch der kapitalistischen Gegensätze hinauszuzögern. Dieses Ergebnis kann aber unmöglich erreicht werden, wenn es nicht gelingt, die offene Repression gegen die revolutionäre Vorhut und eine Befriedigung der dringendsten ökonomischen Bedürfnisse der breiten Massen in einem gewissen Masse zu vereinen.

Diese beiden Aspekte der historischen Tragödie, die wir erleben, bedingen sich wechselseitig: mit Recht sagte der alte Churchill zu den Labouristen: ohne einen Polizeistaat werdet ihr keine Staatswirtschaft errichten können. Mehr Intervention, mehr Regeln, mehr Kontrolle, mehr Schergen. Der Faschismus besteht in der Integration von geschicktem Sozialreformismus und offenem Einsatz der Waffen zur Verteidigung der Staatsmacht. Nicht alle seine Beispiele stehen auf gleicher Höhe, aber der deutsche Faschismus, der bei der Beseitigung seiner Gegner so unerbittlich war, verwirklichte einen durchschnittlich sehr hohen ökonomischen Lebensstandard und eine vom technischen Standpunkt ausgezeichnete Verwaltung; und als er aus Kriegsgründen Einschränkungen vorschrieb, belastete er damit in unerwartetem Ausmass auch die besitzenden Klassen.

Wenn also die bürgerliche Klassenunterdrückung in der totalitären Phase den Anteil der kinetischen Gewaltanwendung im Vergleich zur potentiellen steigert, so erweist sich insgesamt der Druck auf das Proletariat dadurch nicht gesteigert, sondern vermindert. Eben deswegen erleidet die Endkrise des Klassenkampfes historisch einen Aufschub.

Klassenkollaboration bedeutet den Tod der revolutionären Energien. Demokratie ist eine Klassenkollaboration mit viel Geschwätz, Faschismus ist Klassenkollaboration schlechthin. Wir stecken mitten drin in dieser historischen Phase. Die Wiederaufnahme des Kampfes zwischen den Klassen wird dialektisch aus einer weiteren Phase hervorbrechen; auf jeden Fall muss aber feststehen, dass sie nicht aus einer Mobilisierung der Arbeiterklasse für die Rückkehr zum Liberalismus kommen kann, in dem sie nichts zu gewinnen hat, nicht einmal relativ gesehen.

• • •

Diese Arbeit bezieht sich vor allem auf die Anwendung von Gewalt und Diktatur seitens der herrschenden Klassen. Das Thema der Anwendung dieser Energien seitens des Proletariats im Kampf um die Machteroberung und während der Machtausübung wird hier nicht erschöpfend behandelt. Dieser wichtige Punkt wird einem folgenden Kapitel vorbehalten. Verweilen wir aber noch kurz bei der Untersuchung der Formen bürgerlicher Diktatur, um einen Punkt zu präzisieren. Wenn wir von faschistischer, totalitärer und diktatorischer Herrschaftsmethode des Kapitalismus sprechen, beziehen wir uns immer auf kollektive Aktionen und Strukturen. Den Personen der Diktaturen messen wir keine besondere Bedeutung bei. Mit ihnen beschäftigt sich eine mit gleichem Ergebnis von Anbetern wie von Gegnern geschickt manipulierte Öffentlichkeit mehr als genug.

Mitten im zweiten Weltkrieg wurden zwei der Grossen von der Szene verdrängt: Roosevelt und Churchill. Nichts hat sich jedoch im wesentlichen im Ablauf der Ereignisse verändert. Lassen wir Italien beiseite, wo die Beispiele von Faschismus und Antifaschismus viel Lächerliches an sich hatten (bei jeder Neuerung wirkt das erste Probestück immer lächerlich, wie die ersten Automobile, die man im Museum sehen kann, im Vergleich zu einem modernen Serienauto). In Deutschland war Hitler als Person ein überflüssiger Faktor im gewaltigen nazistischen Machtapparat. Das sowjetische Regime wird zur gegebenen Zeit bestens ohne Stalin auskommen. Die andere eindrucksvolle Ballung von Energie, der Machtapparat Japans, beruhte auf Kasten und Klassen ohne eine »Führerpersönlichkeit« zu gebrauchen.

Der alles mit sich reissenden Flut von Lügen, die heute die öffentliche Meinung durchtränkt, kann man nur entrinnen, wenn man unerbittlich den Fetisch des Individuums bekämpft: nicht nur den Individuumsbegriff von damals, der im kleinen Mann, im Mann von der Strasse, im Durchschnittsbürger den heute vollends auf den Hund gekommenen Hauptdarsteller sah, sondern auch den Fetisch des brillanten, im Scheinwerferlicht stehenden Individuums von ganz oben, des Führers, des Grossen.

Dass wir in einer Zeit der Selbstregierung der Völker leben, daran glauben nicht einmal mehr die Hühner.

Wir sind aber auch nicht in den Händen von wenigen grossen Männern: Wir sind in der Gewalt von ganz wenigen grossen Klassenmonstern, den grössten Staaten der Welt, Unterdrückungsmaschinen, deren Übermacht schwer auf allen und allem lastet. Ihre unverschleierte Akkumulation von potentieller Energie ist nur das Vorspiel für die kinetische Entfesselung massloser und vernichtender Kräfte, wann und wo auch immer die Erhaltung der bestehenden Ordnung es erforderlich machen sollte - ohne jegliche menschliche, moralische oder gesetzliche Bedenken, ohne die geringste Rücksicht auf die idealen Prinzipien, die uns tagaus tagein von den heuchlerischen, unverschämten und käuflichen Propagandamaschinen aufgetischt werden.

IV. Proletarischer Klassenkampf und Gewalt
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Die drei ersten Teile befassten sich kurz mit der Entwicklung der Klassenkämpfe in der Geschichte bis zum Aufkommen der gegenwärtigen, bürgerlichen Gesellschaft. Sie bezogen sich auf die marxistische Auffassung des Problems, die schon lange ausgearbeitet war, jedoch ständig zum Gegenstand von Abweichungen und Verwirrungen gemacht wird.

Zum Zwecke einer klaren Darstellung ging man von der grundlegenden Unterscheidung zwischen Energie im potentiellen oder virtuellen Zustand und Energie im aktuellen oder kinetischen Zustand aus, d.h. zwischen der Energie, die in Aktion treten kann, jedoch noch zurückgehalten wird und der Energie, die in Bewegung ist und verschiedene Folgen bewirkt. Wir haben kurz auf die Bedeutung dieser Unterscheidung in der Physik hingewiesen, um sie anschliessend in sehr einfacher Form in den Erscheinungen des organischen Lebens und der menschlichen Gesellschaft zu verfolgen.

Es wurde dann das Problem der Erkennung von Gewalt und Zwang in den gesellschaftlichen Erscheinungen gestellt. Wie wir betonten, sind diese nicht nur in den brutalen physischen Aktionen festzustellen, wo Menschen gefesselt, geschlagen und getötet werden, sondern immer, wenn die Handlungen des Einzelnen durch einfache Strafandrohung erzwungen werden - in einem viel breiteren Wirkungsfeld also. Dieser Zwang entsteht notwendigerweise aus den ersten Formen gemeinschaftlicher Produktionstätigkeit und somit aus der civis und polis, aus der zivilen und politischen Gesellschaft. Er ist ein unentbehrliches Element in der ganzen Entwicklung der Geschichte, in der Ablösung der Institutionen und Klassen. Es geht nicht darum, ihn zu verherrlichen oder zu verurteilen. Man muss ihn vielmehr im Zeitablauf und in den verschiedenen Situationen erkennen und seine Rolle einschätzen.

Im zweiten Teil haben wir die feudale und die bürgerliche, kapitalistische Gesellschaft miteinander verglichen. Dieser Teil war dem Nachweis der (bestimmt nicht neuen) These gewidmet, dass der Kapitalismus, der eine grundlegende Wendung in der Entwicklung der Produktionstechnik und der Volkswirtschaft bedeutete, keineswegs von einer Verminderung der Anwendung materieller Kraft, Gewalt und gesellschaftlicher Unterdrückung begleitet wurde.

Für Marx übertrifft die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsformation alle anderen in der Zusammenballung von Antagonismen. In ihrer Entstehung und Entwicklung sowie in ihrem Widerstand gegen den eigenen Tod erzeugt sie ein bis dahin unbekanntes Höchstmass an Ausbeutung, Verfolgung und menschlichen Leiden, Qualitativ und quantitativ, potentiell und dem Umfang, der Schärfe und Breite nach, und - um es in moralisierend-literarische Ausdrücke zu übersetzen, die nicht die unsrigen sind - in der Grausamkeit und Unersättlichkeit, ist diese Spitzenleistung so gross, dass sie die Massen, Völker und Rassen aller Winkel dieser Erde erfasst.

Der dritte Teil behandelte den Vergleich zwischen den liberal-demokratischen und den faschistisch-totalitären Formen der bürgerlichen Herrschaft. Die Illusion, dass unter den ersten die Unterdrückung kleiner und die Toleranz grösser seien, wurde aufgedeckt. Der banalen Betrachtung, die sich auf die offensichtlich wirkende Gewalt beschränkt, stellte man die Einschätzung des tatsächlichen Gewaltpotentials der modernen Staatsapparate entgegen, d.h. ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, jedem revolutionären Angriff ihres Erzfeindes zu widerstehen. Man konnte dadurch sehen, wie blind und vulgär die Meinung ist, die heute jauchzend verbreitet, dass die zwei Weltkriege die Kräfte der Reaktion und Tyrannei zurückgestossen hätten. In Wirklichkeit hat das kapitalistische System seine Macht offensichtlich mehr als verdoppelt: diese ballt sich zusammen in den grossen Staatsgiganten und im laufenden Aufbau des »Leviathan« der weltweiten Klassenherrschaft. Den Beweis dafür wird man zwar nicht in einer Untersuchung des politischen Kabaretts unserer Tage finden, wo Juristen, Literaten und Jahrmarktredner Ekelhafteres von sich geben als unter den besiegten Staaten der »Achse«, sondern in einer wissenschaftlichen Berechnung der Finanz-, Militär- und Polizeimacht, in der Bemessung der schwindelerregenden Akkumulation und Konzentration privaten oder öffentlichen, aber immer bürgerlichen Kapitals.

Im Vergleich zu 1914, 1919, 1922, 1933 und 1943 ist die kapitalistische Herrschaft heute, 1947, noch erstickender, sei es in der politischen Unterdrückung der werktätigen Massen und all dessen, was sich ihr irgendwie in den Weg stellt. Das gilt für die »Grossen« nach der totalitären Vernichtung der Staatsapparate Deutschlands und Japans. Das gilt schliesslich nicht weniger für den italienischen Staat, den geschlagenen, ausgelachten, vasallen, käuflichen und in alle Himmelsrichtungen verkauften italienischen Staat, der heute dennoch mit mehr Polizei gepanzert, terroristischer ist als unter Giolitti oder Mussolini, und möglicherweise noch terroristischer wäre, wenn er von den Händen De Gasperis auf die der »linken« Gruppen übergehen würde.

Nach dieser Zusammenfassung wollen wir die Frage der Anwendung von materieller Kraft und Gewalt im Klassenkampf der revolutionären Klasse unseres Zeitalters, des modernen Proletariats, untersuchen.

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Die Methode des Klassenkampfes wurde im Laufe fast eines Jahrhunderts von so vielen und verschiedenen Bewegungen und Schulen in Worten angenommen, dass die unterschiedlichsten Auslegungen in heftigen Polemiken aneinandergerieten. Darin spiegelten sich die Ereignisse und Wenden des Kapitalismus und der Gegensätze, die er erzeugt, wider.

Die Auseinandersetzung wurde im Laufe des ersten Weltkrieges und der russischen Revolution in einer nunmehr klassischen Form erledigt: Lenin, Trotzki und die orthodoxen Gruppen, die sich in der Kommunistischen Internationale zusammenschlossen, haben die Fragen der Gewalt, der Machteroberung, des Staates und der Diktatur in eine Form gelöst, die man auf dem Gebiet der Theorie und des Programms als endgültig betrachten muss.

Auf der Gegenseite standen die unzähligen Entstellungen des sozialdemokratischen Opportunismus. Wir werden hier nicht alle Widerlegungen wiederholen. Es ist aber nützlich, an bestimmte Punkte zu erinnern, um unsere kennzeichnenden Begriffe zu klären. Andererseits tauchen heute viele der damals geschlagenen Positionen, die für immer zerstreut erschienen, in fast identischer Form in der Arbeiterbewegung wieder auf.

Für den Revisionismus war die Voraussage eines revolutionären Zusammenstosses zwischen dem Proletariat und den Festungen der bürgerlichen Macht falsch. Er wollte zeigen, dass der ganze Teil des Marxismus, der sich damit befasste, überholt war. Dafür hat er Texte entstellt und ausgenutzt, vor allem eine bekannte Einleitung und einen Brief von Engels: die Fortschritte der Militärtechnik hätten die Erfolgsaussichten eines bewaffneten Aufstands vernichtet, andererseits liessen die Fortschritte der Gewerkschaftsbewegung und der parlamentarischen Parteitätigkeit eine baldige und sichere Machteroberung mit gesetzlichen und friedlichen Mitteln vorhersehen.

Man wollte in den Reihen der Arbeiterklasse die Überzeugung verbreiten, dass es nicht möglich ist, die Macht der kapitalistischen Klasse mit Gewalt zu zerschlagen, und dass es andererseits möglich ist, den Sozialismus nach der Eroberung der parlamentarischen Mehrheit und dadurch der Staatsexekutive zu verwirklichen.

Den linken Marxisten wurde vorgeworfen, die Gewalt anzubeten und zum Selbstzweck zu erheben, sie geradezu sadistisch zu fordern, auch wo man sie »ersparen« und dasselbe Ziel auf friedlichem Weg erreichen konnte.

Die historischen Ereignisse sprachen aber lauter und entlarvten sehr bald den Inhalt dieser Polemik, der nicht so sehr in einer Anbetung der Gewaltlosigkeit bestand, sondern vielmehr in der Apologie der Prinzipien der bürgerlichen Ordnung.

Nachdem die bewaffnete Revolution in Leningrad gegen den Widerstand der zaristischen Ordnung und der russischen Bourgeoisie den Sieg davontrug, verwandelte sich das Argument, dass es nicht möglich sei, die Macht mit Waffengewalt zu erobern, in das Argument, dass man es nicht tun sollte, auch wenn es möglich sei. Diese Position gehörte mit der idiotischen Predigt eines allgemeinen Humanismus und Sozialpazifismus zusammen. Die Gewalt wurde als Siegesinstrument der proletarischen Revolution strikt verworfen. Die Gewalt, die die Bourgeoisie in ihren historischen Revolutionen angewandt hatte, wurde im Gegenteil und sogar in ihren extremsten terroristischen Äusserungen gutgeheissen. Und es blieb nicht nur dabei. Bei allen umstrittenen Entscheidungen in den historisch ausschlaggebenden Situationen der sozialistischen Bewegung widersprach die Rechte den Anträgen auf direkte Aktion, gab aber immer zu, dass sie für andere Ziele die Aufstandsforderung geteilt hätte. Im Mai 1915 zum Beispiel stellten sich die reformistischen Sozialisten in Italien gegen den Vorschlag, auf die Mobilisierung für den Krieg mit dem Generalstreik zu antworten. Sie beschränkten sich nicht auf taktische Erwägungen über das Kräfteverhältnis, sondern führten ideologische und politische Argumente ins Feld, die im Zugeständnis gipfelten, sie hätten das Volk zum Aufstand aufgerufen, falls Italien an österreichisch-deutscher Seite dem Krieg beigetreten wäre.....

Desgleichen sind die Befürworter der »Anwendung« der legalen und demokratischen Wege immer bereit, zuzugeben, dass die Volksgewalt legitim und notwendig ist, wenn von oben versucht werden sollte, die Verfassungsgarantien abzuschaffen. Wie es sich erklärt, dass in einem solchen Fall der Fortschritt der militärischen Rüstung in den Händen des Staates plötzlich kein unüberwindliches Hindernis mehr ist; warum im Falle einer friedlichen Mehrheitseroberung die herrschende Klasse nicht zum Militär greifen wird, um die Macht zu erhalten; wie das Proletariat in allen diesen Situationen die Gewalt, die als Klasseninstrument verrufen wird, erfolgreich anwenden kann - auf all diese Fragen hatten die Sozialdemokraten nichts zu sagen, weil sie sonst gestehen müssten, nichts anderes als Handlanger der bürgerlichen Konservation zu sein.

Ihr System von taktischen Losungen lässt sich in der Tat nur mit einer deutlich antimarxistischen Verherrlichung der bürgerlichen Ordnung vereinbaren: das ist übrigens die Grundlage der ganzen Politik aller Parteien, die auf dem verkrüppelten Stamm des Antifaschismus wuchsen.

Mit der bürgerlichen Revolution, der Vernichtung feudaler und despotischer Ordnungen, hätten Gewalt und Bürgerkrieg ihren letzten historischen Auftritt gehabt. Die Eroberung der politischen Freiheiten hätte ein Zeitalter friedlicher, zivilisierter Kämpfe eingeleitet, wo ohne weitere gewaltsame Zusammenstösse alle anderen Forderungen durchgesetzt werden könnten, so auch die ökonomische und soziale Gleichheit.

Was bleibt in alledem von der proletarischen Klassenbewegung übrig? Vom Sozialismus, vom radikalsten Kampf der Geschichte, von der Umwälzung einer ganzen Welt mit ihrer ökonomischen Ordnung, ihrer juristischen und politischen Struktur, ihren Ideologien, die nach wie vor unsere Luft mit den überlieferten Lügen aller bisherigen Klassengesellschaften, aller bisherigen Unterdrückung verpesten? Nichts. Der Sozialismus sozialdemokratischer Prägung beschränkt sich auf eine schüchterne Integration vermeintlicher Verfassungsrechte, mit denen der Kapitalismus die Gesellschaft erleuchtet und bereichert hätte, mit verschwommenen sozialen Forderungen, die man auf den Stamm des bürgerlichen Systems aufpfropfen sollte.

An die Stelle der grossartigen Perspektive des Marxismus, der den unterschwellig wachsenden, unwiderstehlichen Druck untersucht, der die Hülle der bürgerlichen Formen in die Luft sprengen wird, wie die geologischen Ausbrüche die Erdkruste zerreissen, treten die demagogischen Phrasen eines Roosevelt, der die Aufzählung bürgerlicher Freiheiten mit der Freiheit von Furcht und Not ergänzt, oder eines Pacelli, der die Segnung des ewigen Prinzips des Eigentums in der modernen kapitalistischen Form mit den Krokodilstränen über den Abgrund zwischen Massenelend und gigantischer Akkumulation von Reichtum verbindet.(2)

In der leninistischen Wiederherstellung des Marxismus wird die Definition des Staates zurechtgerückt: die Maschine, mit der eine Gesellschaftsklasse eine andere Gesellschaftsklasse unterdrückt. Diese Definition behält ihre volle Gültigkeit, vor allem für den modernen bürgerlichen Staat der parlamentarischen Demokratie. Als Krönung der historischen Polemik wurde ebenso klar, dass die proletarische Klassenmacht in diese Maschine nicht eindringen kann, sie für eigene Zwecke nicht benutzen kann: sie muss angegriffen, zerschlagen, zerfetzt werden.

Der proletarische Kampf ist kein Kampf im bürgerlichen Staat, sondern Kampf von aussen gegen diesen Staat und all seine Manifestationen und Formen. Der proletarische Kampf stellt sich nicht das Ziel, den Staat zu erobern, wie eine Armee eine Festung erobert. Sein Ziel ist es, seine Schanzen und Befestigungen dem Erdboden gleich zu machen.

Nach dieser Zerstörung wird jedoch eine neue Form von politischem Staat notwendig. Die Organisation der proletarischen Klassenherrschaft ist notwendig, weil es nur durch einen zentral geleiteten Einsatz systematischer Gewalt möglich ist, die Privilegien des Kapitals auszuradieren und die Produktivkräfte dem Privateigentum und der Marktwirtschaft zu entreissen, um sie in neuen, kommunistischen Formen zu organisieren.

Deshalb spricht man sehr präzise von Machteroberung und versteht darunter keine gesetzliche und friedliche, sondern die revolutionäre Machtergreifung durch Waffengewalt. Man spricht auch sehr zu Recht von Machtwechsel, vom Übergang der Macht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Proletariats. In unserer Theorie bedeutet Macht nicht nur etwas Statisches: die auf die schwere Tradition der Vergangenheit gestützte Autorität und Verfassung; sondern auch etwas Dynamisches: die in die Zukunft weisende materielle Kraft und Gewalt, die die hinderlichen, sperrigen Institutionen hinwegfegt. Es wäre missverständlich, von Eroberung des Staates oder Übergang des Staates aus den Händen der einen Klasse in die einer anderen zu sprechen: die unterdrückte Klasse kann nur siegen, wenn sie den Staat ihrer Unterdrücker zerschlägt. Wenn man von diesem grundlegenden Punkt des Marxismus auch nur im geringsten abweicht, landet man auf direktem Wege in dem extremsten Konservatismus. Dies gilt auch für scheinbar geringfügige Zugeständnisse, wie z.B., dass ein parlamentarischer Machtwechsel möglich sei, wenn er von Strassenkämpfen oder Verteidigungskriegen gegen ausländische Interventionen begleitet wird. Was bedeutet eine solche Auffassung? Dass der Staatsapparat eine offene Form ist, die man mit gegensätzlichen sozialen Inhalten füllen kann, also dass er etwas über den Klassen, über dem Klassenkampf stehendes ist. Eine solche Auffassung muss zur Ehrfurcht vor der Legalität und zur vulgären Apologie der bestehenden Ordnung führen.

Dabei handelt es sich nicht lediglich um einen wissenschaftlichen Einschätzungsfehler, sondern um einen geschichtlichen Entartungsprozess, der sich materiell vor unseren Augen abspielte und die vormals kommunistischen Parteien in den Abgrund stürzte. Diese haben den Thesen von Lenin den Rücken gekehrt, um schliesslich zur Koalition mit den sozialdemokratischen Verrätern, zur »Arbeiterregierung«, zur demokratischen Regierung in direkter Kollaboration mit der Bourgeoisie im Dienste der Bourgeoisie zu gelangen.

Neben der unmissverständlichen These der Zerschlagung des Staates hat Lenin auch die These der Errichtung des proletarischen Staates wiederhergestellt, die von den Anarchisten verworfen wird. Diese, obwohl sie den Verdienst hatten, die Zerschlagung des Staates zu fordern, waren Opfer der Illusion, dass die Gesellschaft sofort nach der Vernichtung der bürgerlichen Staatsmacht in der Lage sein würde, jede Form von organisierter Macht und also von politischem Staat, d.h. jedes System sozialer Gewalt zu entbehren. Die Transformation der privaten Wirtschaft in sozialistische kann aber nicht augenblicklich erfolgen und das bedeutet auch, dass die nichtarbeitende Klasse, die man nicht dadurch abschaffen kann, dass man ihre einzelnen Mitglieder physisch eliminiert, ebensowenig im Nu verschwinden wird. Die revolutionäre Staatsorganisation muss also funktionsfähig bleiben, solange (und es wird keine kurze Periode sein) kapitalistische Wirtschaftsformen überleben. Das bedeutet, wie Lenin unverblümt sagte, dass man Armeen, Polizeikräfte und Gefängnisse haben muss.

Erst mit dem progressiven Rückgang des noch privatwirtschaftlich organisierten Bereiches wird auch die Notwendigkeit, politischen Zwang auszuüben, immer geringer. Der Staat neigt dazu, allmählich abzusterben.

Die hier kurz wiederholten Punkte heben zur Genüge hervor, dass nicht nur die wunderbare Polemik, die die Widersacher des Marxismus lächerlich gemacht und demoliert hat, sondern vor allem das höchste Ereignis in der Geschichte des Klassenkampfes, die klassischen Thesen von Marx und Engels, des kommunistischen Manifestes, der Lehren aus der Niederlage der Commune in vollem Glanz erstrahlen liess: Eroberung der politischen Macht, Diktatur des Proletariats, despotischer Eingriff in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, schliesslich Absterben des Staates.

Das gute Recht, von historischen Bestätigungen zu reden, die die genialen theoretischen Ableitungen begleitet haben, scheint aber aufzuhören, wenn man auf diese letzte Phase kommt. Den Prozess der Schrumpfung, Entleerung, Auflösung des Staates haben wir bis heute nicht erlebt, weder in Russland noch woanders. Es ist eine wichtige und schwierige Frage, da für die gesunde Dialektik nichts durch eine mehr oder weniger brillante Wortfolge endgültig bewiesen werden kann: die Schlussfolgerungen müssen sich ausschliesslich auf Tatsachen stützen.

Unter jedem meteorologischen und ideologischen Klima blähen sich alle bürgerlichen Staaten vor unseren Augen in unerhörter Form auf. Der Staat, der von einem mächtigen Propagandaapparat als Arbeiterstaat dargestellt wird, dehnt seine Organisation und seine Funktion auf bürokratischer, juristischer, polizeilicher und militärischer Ebene über alle Schranken hinaus aus.

Kein Wunder also, wenn die Voraussage, dass der Staat nach Erfüllung seiner entscheidenden Aufgabe im Klassenkampf abnimmt und verschwindet, auf eine verbreitete Skepsis stösst.

Die vulgäre Meinung scheint uns zu sagen: »Da könnt Ihr ewig warten, ihr Verkünder von roten Diktaturen. Staat bleibt Staat. Und sein Apparat, weit davon entfernt, zurückzugehen, wird sich wie ein Tumor im Körper der Gesellschaft ausbreiten, alle ihre Gewebe und Mäander ergreifen, bis er sie erstickt« Diese geläufige Einschätzung ermutigt alle ideologischen Formeln des Individualismus, Liberalismus und Anarchismus. Schliesslich bringt sie Wasser auf die Mühle aller altjungen, verkrüppelten Verzwitterungen von Marxismus und Liberalismus, wie sie z.B. von »sozialistischen« Ideologien vorgeschlagen werden, die auf der würdevollen Grundlage der Persönlichkeit und ihrer uneingeschränkten Äusserung stehen.

Es ist äusserst merkwürdig, dass sogar die spärlichen Gruppen des kommunistischen Lagers, die auf die opportunistische Entartung der Parteien der aufgelösten Moskauer Internationale reagierten, in diesem Punkt zögern. In ihrer Sorge, gegen die erstickende Zentralisation der stalinistischen Bürokratie zu kämpfen, werden sie dazu verleitet, die von Lenin wiederhergestellten, grundsätzlichen Positionen des Marxismus in Zweifel zu ziehen. Offensichtlich glauben sie, dass Lenin und mit ihn alle revolutionären Kommunisten der grossen Periode von 1917-1920 den Fehler einer Staatsvergötterung begangen haben.

Es muss klar hervorgehoben werden, das die marxistische Linke Italiens, an die sich - diese Zeitschrift knüpft, in dieser Sache kein Zögern und keine Reue kennt. Sie weist jegliche Revision des grundlegenden Prinzips von Marx und Lenin voll zurück. Die Revolution ist ein im wahrsten Sinne des Wortes gewaltsamer Prozess, eine autoritäre, totalitäre und zentralistische Sache.

Die Verwerfung der stalinistischen Politik beruht nicht auf abstrakten, akademischen und formal-rechtlichen Vorwürfen des Missbrauchs von Bürokratismus, Dirigismus und despotischer Autorität, sondern auf einer von Grund auf verschiedenen Einschätzung der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung in Russland und in der Welt. Das monströse Wachstum der Staatsmaschine ist nicht die sündhafte Ursache dieser Entwicklung, sondern deren unvermeidliche Folge.

Zweifel hinsichtlich der Annahme und der offenen Befürwortung der Diktatur des Proletariats beruhen auf verschwommenen und idiotischen Moralvorstellungen über das angebliche Recht des Individuums oder der Gruppe, sich der Unterordnung unter eine grössere Kraft zu entziehen. Darüber hinaus beruhen sie auf der Unterscheidung (die zweifelsohne äusserst wichtig ist) zwischen dem Begriff der Diktatur einer Klasse gegen eine andere Klasse und dem Begriff der Organisations- und Machtverhältnisse, mit denen die Diktatur des Proletariats sich innerhalb der Arbeiterklasse aufbaut und verkörpert.

Ohne den Anspruch zu erheben, diese Fragen erschöpfend behandelt zu haben (denn nur die Geschichte kann sie endgültig lösen, wie sie unseres Erachtens die Frage der Notwendigkeit der Gewalt für die Machteroberung bereits endgültig gelöst hat), ging es uns darum, das Grundlegende richtigzustellen, bevor wir zu diesem letzten Punkt gelangen - ist es ja Aufgabe der Partei als Denkschule und militante Organisation zu vermeiden, dass man auf der Suche nach einer Lösung auf Argumente unbewusst zurückgreift, die von feindlichen Ideologien und somit von den Klasseninteressen des Gegners diktiert und beeinflusst werden.

Die Diktatur ist also der dialektische zweite Aspekt der revolutionären Kraft. In der ersten Phase, in der Phase der Machteroberung, wirkt diese Kraft von unten nach oben und fasst alle Energien für die Anstrengung zusammen, den seit langem bestehenden Staatsapparat zu zerschlagen. Nach dem Erfolg dieser Anstrengung wirkt dieselbe Kraft in umgekehrtem Sinne, von oben nach unten weiter: ein vollständig neugebildeter Staatsapparat übt die Macht aus und tritt noch stärker, entschlossener und notfalls unerbittlicher und terroristischer als der besiegte auf.

Sowohl das Gezeter gegen die Forderung der Diktatur, die heute selbst von den Vertretern des eisernen russischen Regimes heuchlerisch verleugnet wird, als auch die Alarmrufe gegen die angebliche Machtgier, die Gier nach materiellen Privilegien des bürokratischen Personals (das sich in eine neue herrschende Klasse oder Kaste verwandelt hätte!) zeugen von einer vulgären und metaphysischen Auffassung, die Gesellschaft und Staat als abstrakte Erscheinungen behandelt und nicht imstande ist, den Schlüssel des Problems in der Untersuchung der ökonomischen Sphäre und der von den Klassenzusammenstössen auf allen Bereichen hervorgerufenen Transformationen zu suchen.

Es ist daher ein banaler Fehler, die marxistische Auffassung von der Diktatur mit der vulgären Auffassung von Tyrannei, Despotismus und Autokratie zu verwechseln. Dadurch verwechselt man die Diktatur des Proletariats mit der persönlichen Macht, um - ausgehend von denselben blödsinnigen Kriterien - Hitler, Mussolini, Stalin und.,. Lenin an den Pranger zu stellen.

Es sei deshalb daran erinnert, dass der Marxismus die Auffassung, dass die Staatsapparate vom Willen dieser zeitgenössischen »Führer« gelenkt werden, voll zurückweist. Diese sind nichts anderes als beachtliche Symbolfiguren, die auf dem Schachbrett der Geschichte von Kräften gelenkt werden, denen sie sich nicht entziehen können.

Die bürgerlichen Ideologen entrüsten sich über Franco oder Tito und über die energischen Methoden der Staaten, denen letztere als Führer dienen. Wie wir mehrmals feststellten, haben sie dazu kein Recht, betreiben sie ja andererseits die Apologie der Diktatur und des Terrors, zu denen die Bourgeoisie nach ihrer Machteroberung griff. Kein spiessbürgerlicher Geschichtsschreiber beschreibt Giuseppe Garibaldi, der 1860 Diktator von Neapel war, als politischen Kriminellen; Garibaldi wird vielmehr als Kämpfer der Menschheit gepriesen.

Die Diktatur des Proletariats äussert sich also nicht in der Macht eines Mannes, auch nicht wenn dieser ausserordentliche persönliche Eigenschaften besitzt. Hat sie dann als subjektive Triebkraft eine politische Partei, die im Namen und auf Rechnung der Arbeiterklasse handelt? Auf diese Frage antworten wir heute wie vor dreissig Jahren bedingungslos mit einem Ja.

Es ist aber nicht zu leugnen, dass die Parteien,` die sich als Vertreter der Arbeiterklasse ausgeben, tiefe Krisen erlitten und sich wiederholt zersplittert und gespalten haben. Auf unser entschiedenes Ja folgt also die Frage, ob und mit welchen Kriterien man feststellen kann, welche Partei in Wirklichkeit revolutionär ist, das Proletariat vertritt. Das führt uns zur Frage des Verhältnisses zwischen der breiten Klassenbasis und dem kleineren und genau abgegrenzten Parteiorganismus.

Bei der Antwort auf diese Frage müssen wir die unterscheidenden Kennzeichen der proletarischen Diktatur stets vor Augen halten. Wie immer bei unserer Methode lässt sich die Sache, noch bevor sie sich geschichtlich positiv konkretisiert, durch ihre negativen Aspekte definieren.

Eine Diktatur ist ein Regime, wo die besiegte Klasse mit Gewalt ausserhalb des Staates gehalten wird, obwohl sie physisch weiterbesteht und statistisch einen beachtlichen Teil der Gesellschaft darstellt. Diese Klasse wird darüber hinaus durch Koalitions-, Propaganda- und Presseverbot völlig daran gehindert, eine Wiedereroberung der Macht zu versuchen.

Es ist nicht notwendig, im voraus festzulegen, wer sie in dieser unterdrückten Lage halten wird. Die Entwicklung des Klassenkampfes selbst wird es zeigen.

Vorausgesetzt, dass die Klasse, die wir bekämpfen, auf diesen Zustand sozialer Unterlegenheit herabgesetzt wird, in Erwartung ihres statistischen Todes diesen sozialen Tod erleidet, können wir für einen Augenblick hinsichtlich der subjektiven Triebkraft verschiedene Möglichkeiten annehmen: die ganze soziale Mehrheit, die gesiegt hat (absolute und unrealisierbare Hypothese) oder ein Teil dieser Mehrheit bzw. eine feste Avantgardegruppe (selbst wenn zahlenmässig in der Minderheit), oder schliesslich während einer kurzen Periode ein Mann allein (eine andere extreme Hypothese, die sich in einem einzigen historischen Beispiel fast verwirklicht hat, nämlich als Lenin im April 1917, allein gegen das ganze Zentralkomitee und die alten Bolschewiki, aus der Entwicklung der Ereignisse die neuen Linien der Geschichte der Partei und der Revolution herauslas und in seinen Thesen festhielt, genauso wie er im November die gesetzgebende Versammlung durch die roten Soldaten auflösen liess).

Die marxistische Methode beruht weder auf Offenbarung, noch auf Prophetie, noch auf Scholastik. Sie erwirbt zunächst die Kenntnis der Richtung, in die die geschichtlichen Kräfte wirken, und stellt ihre Beziehungen und Gegensätze fest. Da theoretische Untersuchung und praktischer Kampf Hand in Hand gehen, bestimmt sie in der Folge den Charakter der Erscheinungen und die Kampfmittel.

Die Pariser Kommune bestätigte, dass das Proletariat den alten Staat zerschlagen und nicht durchdringen muss, und dass das Kampfmittel der Aufstand und nicht der legale Weg ist.

Die Niederlage der Kommune und der Sieg der Oktoberrevolution zeigten, dass man eine neue Form von bewaffnetem Staat errichten muss, dessen »Geheimnis« darin besteht, der besiegten Klasse und all ihren Parteien das politische Überleben zu verweigern.

Dieses entscheidende Geheimnis wurde der Geschichte entlockt (der Kürze halber erlauben wir uns, mit diesem Ausdruck zu »kokettieren«). Damit haben wir aber noch nicht die ganze Funktionsweise und Dynamik des neuen Staatsapparates untersucht und geklärt. Vor allem ein äusserst schwieriger Bereich bleibt offen: der seiner Pathologie.

Welches seine repräsentativen, exekutiven, judikativen und bürokratischen Strukturen auch seien, unser Staat hebt sich immer und vor allem durch seinen determinierenden negativen Charakter, d.h., durch den Ausschluss der abgesetzten Klasse aus allen Staatsbereichen, radikal vom bürgerlichen Staat ab, der alle Gesellschaftsschichten in seine Organe zuzulassen vorgab.

Diese »Neuigkeit« wird aber der unterdrückten Bourgeoisie keineswegs absurd erscheinen. Als sie es fertigbrachte, den Staat des Adels und Klerus in die Luft zu sprengen, hatte sie wohl verstanden, dass es ein Fehler gewesen war, lediglich die Forderung zu stellen, als dritter Stand in den Staatsapparat zugelassen zu werden. Im Konvent und im Terror verjagte sie die »Ex-Oberen« aus dem Staat.

Da die Privilegien des Adels und des Klerus mehr auf juristischen Vorrechten als auf den Produktionsmechanismen beruhten, konnte sie sie bald zerstören und Pfaffen und Aristokraten auf den Rang von normalen Bürgern bringen. Ihre diktatorische Phase konnte deshalb historisch bald abgeschlossen werden.

Nachdem wir den kardinalen Punkt darlegten, der die Diktatur des Proletariats als historische Form unterscheidet, werden wir im folgenden, abschliessenden Teil dieser Untersuchung die Verhältnisse zwischen ihren verschiedenen Organen (Klassenpartei, Arbeiterräten, Gewerkschaften, Betriebsräten) behandeln.

Es handelt sich mit anderen Worten um das Problem der sogenannten proletarischen Demokratie (der Ausdruck wurde in der III. Internationale benutzt, es wäre aber besser, ihn abzulegen), die errichtet werden sollte, nachdem die Diktatur des Proletariats die bürgerliche Demokratie historisch liquidiert hat.

V. Russische Entartung und Diktatur
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Die schwierige Frage der Entartung der proletarischen Macht kann man in grossen Zügen wie folgt umreissen: In einem riesigen Land eroberte die Arbeiterklasse die Macht nach dem historischen Leitfaden des bewaffneten Aufstands und der Vernichtung jeglichen Einflusses der besiegten Klassen unter dem Druck der Klassendiktatur. Aber in den anderen Ländern der Erde hat die Arbeiterklasse entweder nicht die Kraft gehabt, den revolutionären Angriff zu starten, oder wurde bei diesem Versuch niedergeschlagen. In diesen Ländern bleibt die Macht in Händen der Bourgeoisie, Produktion und Verteilung fahren fort, sich im Rahmen des Kapitalismus abzuspielen, der den Weltmarkt völlig beherrscht.

In dem Land, wo die Revolution stattgefunden hat, hält die Diktatur auf politischer und militärischer Ebene ausgezeichnet gegen jeglichen Versuch eines Gegenangriffs stand. In wenigen Jahren beendet sie siegreich den Bürgerkrieg, und der Kapitalismus im Ausland unternimmt keine generelle Aktion, um sie zu zerstören.

Innerhalb des neuen politischen und Verwaltungsapparates kommt es jedoch zu einem Degenerierungsprozess. Privilegierte Kreise entstehen, die die Vorteile und Ämter der bürokratischen Hierarchie monopolisieren, die aber dennoch in Worten weiterhin proklamieren, die Interessen der breiten Arbeitermassen zu vertreten und zu verteidigen.

Im Ausland kommt es soweit, dass die revolutionäre Arbeiterbewegung, die mit jener politischen Hierarchie eng in Verbindung steht, nicht nur keine weiteren Siege über bürgerliche Staaten erringt, sondern den Sinn ihrer Aktion immer mehr verfälscht und in anderen, nicht revolutionären Zielen zum Verlöschen bringt.

Angesichts dieses furchtbaren Problems der Geschichte des Klassenkampfs taucht die schwierige Frage auf: wie könnte man diesen doppelten Zusammenbruch verhindern? Die Frage ist jedoch nicht richtig gestellt. Folgen wir hingegen der gesunden deterministischen Methode, so geht es darum, die wahren Wesenszüge und Gesetze dieses Entartungsprozesses zu ermitteln, um festzustellen, wann und worin man die Bedingungen erkennen kann, die es gestatten, einen vor jedem pathologischen Rückfall bewahrten revolutionären Prozess zu vollziehen.

Wir werden an dieser Stelle nicht die Position derjenigen widerlegen, die die Tatsache der Entartung abstreiten und behaupten, in Russland gäbe es die wahre und volle revolutionäre Arbeitermacht, die nachweisbare Entwicklung der ökonomischen Formen zum Kommunismus, sowie eine tatkräftige Koordinierung mit den ausländischen Parteien des Proletariats zum Sturz des Weltkapitalismus.

Genausowenig befassen wir uns hier mit der Erforschung der sozio-ökonomischen Seite des Problems, die eine aufmerksame Untersuchung des russischen Produktions- und Verteilungsmechanismus und seiner effektiven Beziehungen zu den ausländischen kapitalistischen Wirtschaften voraus setzt. (3)

Hier, am Ende dieses Referates über die Fragen der Gewalt und Macht in der Geschichte, wollen wir jenen kritischen Einwänden begegnen, denen zufolge die Entartung in bürokratischer und repressiver Richtung eine direkte Folge davon sei, dass man die Regeln und Kriterien der Wahldemokratie verletzte und missbrauchte.

Dieser Einwand hat zweierlei Aspekte, wovon der weniger radikale gleichzeitig der heimtückischere ist. Der erste Aspekt ist rein bürgerlicher Natur und steht direkt in Zusammenhang mit der ganzen weltweiten Diffamierungskampagne gegen die russische Revolution. Geführt wurde diese Kampagne bereits seit den ersten Kampfjahren von den Liberalen, Demokraten und Sozialdemokraten aller Welt, die sowohl von der Anwendung als auch von der grossartigen, kühnen Theoretisierung der Methode der revolutionären Diktatur terrorisiert waren.

Nach allen hier bereits gemachten Erwägungen halten wir diesen Aspekt des generellen demokratischen Gejammers für überholt. Dennoch bleibt dessen Bekämpfung weiterhin von wesentlicher Bedeutung, vor allem heute, wo wir die Schweinerei erleben, dass gerade die Parteien, die sich auf das in Russland herrschende Regime berufen, die konformistische Forderung der »reinen Demokratie« (die spöttische Bezeichnung stammt von Lenin) auf ihre Fahnen schreiben: sie fordern also gerade das, was in den grundlegenden kommunistischen Texten das dialektische Gegenteil, die vollständige Negation der revolutionären Position darstellt.

Das russische Regime seinerseits ist ein immer strafferes und totalitäreres Polizeiregime, trotz seiner demagogischen und gefährlichen Zugeständnisse an das formale Recht und an den bürgerlich-demokratischen Mechanismus.

Es wird also nie des Guten zuviel sein, immer wieder beharrlich auf der Kritik an der Demokratie in allen bisher bekannten geschichtlichen Formen zu bestehen. Sie war immer eine interne Organisationsweise einer alten oder neuen Klasse von Unterdrückern, ein altes oder neues, von der jeweiligen Situation bestimmtes Verfahren, um die internen Beziehungen zwischen den Ausbeutern zu regeln; und in den spezifisch bürgerlichen Revolutionen schuf sie die richtige und lebensnotwendige Atmosphäre für das üppige Gedeihen des Kapitalismus.

Die alten Demokratien beruhten auf Wahlprinzipien, Versammlungen, Parlamenten oder Konzilen. Unter dem Deckmantel der trügerischen Proklamation, das Wohl Aller und die Verallgemeinerung geistiger oder materieller Errungenschaften anzustreben, dienten sie in Wirklichkeit der Aufzwingung und Festigung der Ausbeutung von Heiden, Sklaven, Heloten, von unterjochten, weil weniger fortgeschrittenen oder weniger kriegerischen Völkern, also von riesigen Menschenmassen, die aus dem Tempel, dem Senat, der Polis, den Komitien ausgeschlossen waren.

Aus den verschiedenen banalen Theorien, die sich alle auf Gleichberechtigung berufen, lesen wir die objektive Wirklichkeit heraus: den Kompromiss, das Einvernehmen, die Verschwörung unter den Mitgliedern der privilegierten Minderheit zum Schaden der unteren Klassen. In unserer Auffassung ist die moderne Form von Demokratie, die auf den Heiligen Tafeln der Grundgesetze der englischen, amerikanischen und französischen Revolution beruht, auch nichts anderes als ein Verfahren, das die besten politischen Bedingungen liefert, damit der Kapitalismus die Arbeiter unterdrücken und ausbeuten kann. Sie ersetzt das alte System der feudalen Unterdrückung, unter dem die Bourgeoisie selbst erstickte, sie ersetzt es aber nur zu dem Zweck, weiterhin auszubeuten, auf eine neue und andersartige, nicht deshalb aber geminderte oder mildere Art.

Grundwichtig ist schliesslich in diesem Zusammenhang die Interpretation der gegenwärtigen, totalitären Phase des Kapitalismus. Die parlamentarischen Formen, die ihre historische Rolle längst ausgespielt haben, verschwinden tendenziell immer mehr, und die Atmosphäre des modernen Kapitalismus wird antiliberal und antidemokratisch. Aus dieser korrekten Einschätzung ergibt sich die taktische Schlussfolgerung, dass jede Forderung nach einer Rückkehr zur anfänglichen bürgerlichen Demokratie gegen die Klasseninteressen des Proletariats arbeitet, reaktionär und sogar »anti-fortschrittlich« ist.

• • •

Kommen wir jedoch nun zum zweiten Aspekt des Einwandes demokratischer Natur. Dieser beruft sich nicht mehr auf die Dogmen einer klassenkollaborationistischen oder über den Klassen stehenden Demokratie, besagt aber im wesentlichen folgendes: Es ist gut und recht, die proletarische Diktatur zu errichten und bei der Unterdrückung der Rechte der besiegten bürgerlichen Minderheit alle Skrupel zu überwinden. Als nun aber die Bourgeois in Russland schon entrechtet waren, kam es zur Entartung des Staates, und zwar, weil man »innerhalb« des siegreichen Proletariats die Regeln der Demokratie verletzte. Hätte man in den proletarischen Basisorganisationen - Räten, Gewerkschaften, politischer Partei - ein voll wirkendes mehrheitliches Wahlsystem verwirklicht und eingehalten und so jede Entscheidung dem zahlenmässigen Ausgang »wirklich freier« Abstimmungen überlassen, so wäre man automatisch auf dem wirklich revolutionären Weg geblieben und hätte jede Entartung und jede Gefahr einer missbräuchlichen, gewalttätigen Vorherrschaft der so verrufenen »stalinistischen Clique« abgewehrt.

Dieser so verbreiteten Ansicht liegt die Meinung zugrunde, dass jedes Individuum allein durch die Tatsache, einer ökonomischen Klasse anzugehören, d.h., mit vielen anderen Individuen hinsichtlich der Produktion bestimmte gemeinsame Verhältnisse zu teilen, gleichermassen veranlagt sei, ein klares »Klassenbewusstsein« zu erlangen, d.h. eine Anzahl von Ansichten und Einsichten zu erwerben, die in ihrer Gesamtheit die Interessen, den historischen Weg und die Zukunft seiner Klasse zum Ausdruck bringen.

Auf diese Weise wird der marxistische Determinismus falsch aufgefasst, denn die Bewusstseinsbildung steht wohl im Zusammenhang mit der zugrundeliegenden ökonomischen Lage, folgt ihr jedoch erst nach langer zeit nach und hat einen viel engeren Wirkungskreis als sie. Bringen wir ein Beispiel. Schon viele Jahrhunderte bevor sich das geschichtliche Bewusstsein der bürgerlichen Klasse herausbildete, existierten Bourgeois, Händler, Bankiers oder kleine Fabrikanten und erfüllten wesentliche ökonomische Funktionen. Ihr Denken war jedoch das von Dienern und Komplizen der Feudalherren, während sich in ihren Reihen erst allmählich eine revolutionäre Tendenz und Ideologie herausbildete und kühne Minderheiten sich zu organisieren begannen, um zu versuchen, die Macht zu erobern.

Diese Machteroberung erfolgte dann mit den grossen demokratischen Revolutionen, und wenn einige Aristokraten für die Revolution kämpften, so gab es auch viele Bourgeois, die nicht nur eine Denkweise, sondern auch eine Aktionslinie bewahrten, die den allgemeinen Interessen ihrer Klasse widersprachen, und in den konterrevolutionären Parteien aktiv waren und kämpften.

Auf ähnliche Weise bilden sich die Meinungen und das Bewusstsein des Arbeiters wohl unter dem Einfluss seiner materiellen Arbeits- und Lebensbedingungen, aber auch im Milieu der ganzen traditionellen, konservativen Ideologie, mit der die kapitalistische Welt ihn umgibt.

Dieser konservative Einfluss wird in der heutigen Phase immer grösser. Man braucht wohl nicht daran zu erinnern, über welche Mittel die geplante Propaganda durch die moderne Technik verfügt; dasselbe gilt für die zentralisierte Intervention im Wirtschaftsleben mit ihrer unendlichen Reihe von Reformmassnahmen und Massnahmen der Wirtschaftskontrolle, die darauf abzielen, zweitrangige Interessen der Arbeiter zu befriedigen, und oftmals wirklich einen konkreten Einfluss auf ihre Lage ausüben.

Soweit es um die rohen und ungebildeten Massen ging, konnten sich die alten, aristokratisch-feudalen Regimes auf die Kirche beschränken, die als wahrer Organisator einer servilen Untertanenmentalität auftrat. Auf die entstehende Bourgeoisie hingegen wirkten sie vor allem mittels der Schule und der Kultur ein, über die sie ja das Monopol besassen. Die junge Bourgeoisie musste einen grossen und komplexen ideologischen Kampf dagegen führen. Von der Dichtung wird dieser Kampf als Kampf für die Meinungsfreiheit dargestellt; in Wirklichkeit handelte es sich um den Überbau eines erbitterten Kampfes zwischen zwei organisierten Kräften, um sich gegenseitig zu überwältigen.

Heute verfügt der Weltkapitalismus nicht nur über Kirche und Schule, sondern auch über tausend andere Formen von ideologischer Manipulation und Bildung des sogenannten Bewusstseins. Im Fabrizieren von Lug und Trug hat er die alten Regimes qualitativ und quantitativ weit überholt, nicht nur in dem Sinne, dass er die absurdesten Lehren und Aberglauben verbreitet, sondern nicht zuletzt im Sinne einer völlig verfälschten Information der Massen über die unzähligen Ereignisse des komplizierten modernen Lebens.

Trotz dieser ausgezeichneten Rüstung unseres Klassenfeindes haben wir immer behauptet, dass sich in den Reihen der unterdrückten Klasse eine entgegengesetzte Ideologie und Theorie den Weg bahnen wird; dass sie immer grössere Klarheit und Verbreitung erlangen wird in dem Masse wie die eigentliche ökonomische Entwicklung den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zuspitzt und zu einer Verallgemeinerung immer schärferer Zusammenstösse zwischen den Klasseninteressen führt. Diese Perspektive beruht jedoch nicht auf der Überlegung, dass aufgrund der zahlenmässigen Überlegenheit der Proletarier im Vergleich zu den Bourgeois die Summe ihrer individuellen Meinungen und Auffassungen die ihrer Gegner übertrumpfen kann.

Diese Klarheit und dieses Bewusstsein bildeten und bilden sich auch nicht in einer formlosen Zusammenwürfelung einzelner Personen heraus, sondern in Organisationen, die aus der undifferenzierten Masse heraus entstehen, in entschlossenen Minderheiten, die international in enger Verbindung stehen und die allgemeine geschichtliche Kontinuität der Arbeiterbewegung fortsetzen. Sie übernehmen die Funktion, den Kampf der Massen zu führen, während die Massen in ihrer Mehrheit aus ökonomischen Beweggründen an diesem Kampf teilnehmen, noch lange bevor sie die gleiche Kraft und Klarheit des Bewusstseins erreichen, die sich in der führenden Partei kristallisiert haben.

Deshalb ist auch nicht auszuschliessen, dass eine (übrigens kaum mögliche) Befragung der gesamten Arbeitermassen nach dem Kriterium der nackten Stimmenzahl sogar ein konterrevolutionäres Ergebnis bringen kann, selbst wenn die Situation für einen Vormarsch, für einen Kampf unter der Führung der fortschrittlichen Minderheit günstig ist. Selbst ein allgemeiner politischer Kampf, der mit der siegreichen Machteroberung abschliesst, führt nicht unmittelbar zur Beseitigung all jener vielfältigen überlieferten Einflüsse der bürgerlichen Ideologien. Diese Einflüsse leben in der ganzen Gesellschaftsstruktur des Landes, in dem die Revolution gesiegt hat, noch lange weiter; aber nicht nur das: sie fahren auch fort, von aussen her, von jenseits der Grenzen her, mit der massiven Entfaltung all der bereits erwähnten, hochmodernen Mittel einzuwirken.

Es genügt nicht, zusammen mit dem Staatsapparat auch das ganze Gerüst ideologischer Planung der Vergangenheit zu zerschlagen, wie die Kirche, die Schule und unzählige andere Verbände; es genügt nicht, über alle grossen Mittel der Meinungsverbreitung wie Presse, Radio, Theater usf., eine zentrale Kontrolle zu errichten. Der grosse Nutzen dieser Massnahmen muss erst durch eine ökonomische und soziale Bedingung ergänzt werden: nämlich die Möglichkeit, bei der Ausrottung der bürgerlichen Produktionsformen rasch und erfolgreich voranzuschreiten. Lenin wusste ganz genau, was die Notwendigkeit, den kleinbäuerlichen Familienbetrieb fortleben und in einem gewissen Sinne aufblühen zu lassen, mit sich bringen würde: einen Spielraum für den Einfluss der egoistischen, händlerischen Denkweise bürgerlicher Natur und für die defätistische Propaganda des Popen, kurz und gut, einen Spielraum für die unzähligen konterrevolutionären Aberglauben. Die gegebenen Kräfteverhältnisse liessen jedoch keine andere Wahl. Nur unter der Voraussetzung, die bewaffnete Macht des Industrieproletariats zu stärken und zu festigen, konnte man die Ausnützung des revolutionären Impulses der verbündeten Bauern gegen die Fesseln des feudalen Agrarregimes mit der Abwehr der Gefahr eines eventuellen Aufstandes halbbereicherter Bauern verbinden, wie es im Bürgerkrieg gegen Denikin und Koltschak geschah.

Die falsche Position derjenigen, die in der Arbeitermasse oder in bestimmten Klassenorganisationen die arithmetische Demokratie anwenden wollen, beruht also auf einer falschen Auslegung des marxistischen Determinismus.

Wir zeigten bereits, dass es falsch ist zu sagen, in jeder geschichtlichen Epoche liessen sich die entgegengesetzten Klassen mit Gruppen identifizieren, die entgegengesetzte Theorien vertreten. In Wirklichkeit neigt in jeder Epoche die unterdrückte Klasse zum Vorteil der herrschenden Klasse dazu, die aus den Interessen der Unterdrücker abgeleitete Ideologie zu akzeptieren. Diener im Fleische, Diener im Geist. Der alte bürgerliche Betrug besteht eben darin, mit der Befreiung des Geistes beginnen zu wollen, die zu nichts führt und die gesellschaftlichen Privilegierten nichts kostet. Man muss mit der materiellen Befreiung beginnen.

Was die missbrauchte Frage des Bewusstseins anbelangt, ist es ebenso falsch, den Ablauf des Determinismus wie folgt zu verstehen: beeinflussende ökonomische Ursachen - Klassenbewusstsein - Klassenaktion. Die Reihenfolge läuft umgekehrt: determinierende ökonomische Ursachen - Klassenaktion - Klassenbewusstsein. Das Bewusstsein kommt zum Schluss und, im allgemeinen, erst nach den entscheidenden Sieg. Das ökonomische Bedürfnis vereint und potenziert den Druck und die Energien all derjenigen, die von den kristallisierten Formen einer bestimmten Produktionsweise unterdrückt und erstickt werden; sie reagieren, sie beginnen sich zu rühren und stürmen gegen jene Schranken an. Im Laufe dieses Zusammenstosses und dieses Kampfes begreifen sie immer mehr seine allgemeinen Bedingungen, Gesetze und Prinzipien: es bildet sich ein klares Verständnis für das Programm der kämpfenden Klasse.

Seit Jahrzehnten wirft man uns vor, wir wollten eine Revolution der Unbewussten.

Wir könnten antworten, dass es uns überhaupt nicht stört, dass die Schläge auch von denen versetzt werden, die sich des Kampfziels noch nicht bewusst sind: Hauptsache, die Revolution zerschlägt den ganzen Ballast des bürgerlichen Regimes; Hauptsache, sie zerschlägt seine drückenden Institutionen, die das Leben der Arbeitermassen bedrücken und verpfuschen.

Wir Linksmarxisten haben jedoch im Gegenteil die wichtige Rolle, die die Theorie in der Arbeiterbewegung spielt, immer klar und unmissverständlich hervorgehoben. Wir haben die Prinzipienlosigkeit und die Prinzipienabschwörung der rechten Opportunisten ständig angeprangert. Wir haben immer die unabänderliche marxistische Auffassung vom Proletariat als Erbe der klassischen modernen Philosophie vertreten. Was meint man mit dieser These? Der Kampf der Bourgeoisie, der Wucherer, Kolonisatoren und Händler, wurde in der Geschichte vom Angriff der kritischen Methode gegen das kirchliche Dogma und gegen die Ideologien der Autorität durch göttliches Recht begleitet. In der Philosophie der Natur vollzog sich eine Revolution, scheinbar sogar vor der Revolution in der Gesellschaft. Und das war notwendig, weil die Bourgeoisie nicht zuletzt auch die ganze Struktur der scholastischen und theokratischen Religionen des Mittelalters zerschlagen musste, um den kapitalistischen Produktionskräften freien Lauf für ihre stürmische Entwicklung zu gestatten. Nach ihrem sozialen und politischen Sieg wurde die Bourgeoisie jedoch konservativ: sie hatte kein Interesse daran, die Waffen der Kritik, die sie gegen die Lügen der christlichen Schöpfungsgeschichten gebraucht hatte, nunmehr auf die viel näheren, menschlichen Probleme der Gesellschaftsordnung anzuwenden. Diese zweite Aufgabe in der Herausbildung des theoretischen Bewusstseins der Gesellschaft musste von einer anderen Klasse übernommen werden, von einer Klasse, die durch ihr materielles Interesse dazu gezwungen war, ihrerseits die Lügen des bürgerlichen Systems zu entlarven. In der mächtigen dialektischen Auffassung von Marx war es die Klasse der »gemeinen Menschen«, die im Mittelalter von der Kultur ausgeschlossen waren und durch die liberale Revolution eine scheinbare juristische Gleichheit erlangt hatten: die Klasse der ungebildeten und fast analphabetischen Handarbeiter der grossen Industrie.

Der Schlüssel unserer Auffassung liegt darin, dass für uns der Träger dieser Aufgabe nicht die einzelne Person mit ihren engen Grenzen ist. Wir wissen allzu gut, dass im Normalfall die Elemente der kämpfenden Masse nicht in der Lage sind, die allgemeine und theoretische Anschauung in ihrem Kopf zu besitzen. Diese Voraussetzung wäre rein illusorisch und konterrevolutionär. Diese Aufgabe wird auch nicht etwaigen auserwählten Menschen oder Menschheitserlösern anvertraut. Nein. Ihr Träger ist ein Organismus, ein Mechanismus, der sich inmitten der Massen herauskristallisiert und die einzelnen Elemente als Zellen seines Gewebes einsetzt und auf eine Funktion hebt, die erst durch diese strukturierten Wechselbeziehungen als solche existiert. Dieser Organismus, dieses System, dieser Komplex, wo jedes Element seine eigene Funktion erfüllt (analog einem Lebewesen mit seinem äusserst artikulierten System von Geweben, Netzen, Gefässen usw.) ist der Klassenorganismus, die Partei, die die Klasse als Klasse für sich gewissermassen bestimmt, sie befähigt, ihre Geschichte zu machen.

Die Auswirkungen dieses Prozesses auf die verschiedenen Individuen, die die Klasse statistisch zusammensetzen, sind äusserst unterschiedlich. Um es konkreter auszudrücken: wir würden uns nicht wundern, in einer gegebenen Situation gleichzeitig Arbeiter, die revolutionär und klassenbewusst sind, Arbeiter, die noch gänzlich das Opfer der konservativen politischen Einflüsse sind und vielleicht in den Reihen des Klassengegners kämpfen, Arbeiter, die noch den opportunistischen Fassungen der Bewegung folgen, usw., zu finden.

Und auch wenn eine ernsthafte statistische Erhebung über die zahlenmässige Aufteilung der Arbeiterklasse unter diese verschiedenen Positionen möglich wäre, könnte man daraus keine unvermittelten Schlussfolgerungen ziehen.

• • •

Es ist also einerseits absolut klar, dass die Klassenpartei vor und nach der Machtergreifung als revolutionäres Instrument entarten kann. Man muss die Ursachen für dieses ernsthafte Phänomen sozialer Pathologie und die dagegen geeigneten Kampfmittel suchen. Andererseits folgt aus den letzten Ausführungen, dass keine abstimmungsartige Konsultation, sei es der Gesamtheit der Parteimitglieder, sei es des breiteren Kreises der Mitglieder ökonomischer Organisationen, wie Gewerkschaften und Betriebsräte, oder selbst politischer Repräsentationsorgane, wie Sowjets oder Arbeiterräte, eine Kontrolle oder Garantie für die Entwicklung und die Direktiven der Partei liefern kann. Man wird also woanders suchen müssen.

Die Geschichte der Arbeiterbewegung hat praktisch bewiesen, dass diese Mittel nie zu guten Ergebnissen führten. Sie haben keinen einzigen der verheerenden Siege des Opportunismus verhindern können. In allen Flügelkämpfen, die sich vor dem ersten Weltkrieg in den traditionellen sozialistischen Parteien abspielten, argumentierten die Rechtsrevisionisten immer gegen die Marxisten, ihre Bindungen zu den breiten Arbeitermassen wären grösser als die des engen Kreises der Parteiführungen.

Der Opportunismus stützte sich in der Tat vor allem auf die parlamentarischen Führer. Unter dem Vorwand, von allen proletarischen Wählern ernannt worden zu sein, deren Zahl viel grösser war als die der Parteimitglieder, verletzten sie die politischen Direktiven der Partei und forderten freie Hand, um mit den bürgerlichen Parteien kollaborieren zu können. Die Gewerkschaftsführer verfolgten ihrerseits auf ökonomischer Ebene dieselbe Kollaborationspraxis und verletzten die Parteidisziplin unter dem Vorwand, alle gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zu vertreten, die ebenfalls viel zahlreicher waren als die Parteimilitanten. In ihrem Kurs auf das Bündnis mit dem Kapitalismus, der in der Unterstützung des ersten imperialistischen Krieges gipfelte, zögerten possibilistische Parlamentarier (4) und Gewerkschaftsbonzen im Namen eines offenen Ouvrierismus nicht, die Gruppen, die in der Partei eine korrekte Klassenpolitik betrieben, auszulachen und »Intellektuelle«, manchmal sogar »Nichtproletarier« zu schimpfen.

Auch die Geschichte des revolutionären Syndikalismus von Sorel bewies durch die Tatsachen, dass die unmittelbare Vertretung des Basisarbeiters kein Mittel ist, um Linkslösungen und Beibehalt der revolutionären Linie herbeizuführen. Da die sozialdemokratischen Parteien auf dem Weg des Verzichts auf die direkte Aktion und die Klassengewalt waren, schien der Anarchosyndikalismus zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Augen vieler Arbeiter einen wahren Gegenpol zur Entartung der Parteien darzustellen. Die marxistischen Gruppen, die später in dem leninistischen Aufbau der Kommunistischen Internationale zusammenfliessen sollten, haben jedoch die scheinbar extremistische Linke von Sorel kritisiert und zurückgewiesen. Sie warfen den Anarchosyndikalisten zu Recht vor, das einheitliche Klassenkriterium preisgegeben zu haben, deshalb auch die Beschränktheit der einzelnen Berufsgruppen und der rein ökonomischen Kämpfe nicht überwinden zu können und daher auch trotz Befürwortung und Anwendung von Gewalt der revolutionären Position des Marxismus abzuschwören: jeder Klassenkampf ist politischer Kampf und bedarf der Partei als unentbehrlichem Organ.

Die Richtigkeit der theoretischen Kritik wurde dadurch bestätigt, dass auch der revolutionäre Syndikalismus in der Kriegskrise Schiffbruch erlitt und in die Reihen des Sozialpatriotismus der verschiedenen Länder überging.

Wir müssen die Untersuchung dieser Frage noch mit den Lehren ergänzen, die man aus der Parteiaktion in der Periode unmittelbar nach der Machtergreifung ziehen kann. Hier sind es die hervorstechendsten Ereignisse der russischen Revolution, die die grösste Klarheit bringen.

Wir weisen die Kritik zurück, der verheerende Entartungsprozess, der von der revolutionären Politik Lenins zur heutigen stalinistischen Position führte, sei ursprünglich auf eine übertriebene Vormachtstellung der Partei und ihres Zentralkomitees gegenüber anderen Organisationen der Arbeiterklasse zurückzuführen. Wir weisen die illusorische Auffassung zurück, der ganze Degenerationsprozess hätte aufgehalten werden können, wenn man, um die Hierarchien zu wählen oder um die wichtigen politischen Entscheidungen des proletarischen Staates zu treffen, auf die Stimmabgabe dieser oder jener »Basis« zurückgegriffen hätte. Um das Problem zu behandeln, muss man es aber zunächst mit der ökonomisch-sozialen Funktion der verschiedenen Organisationen im Prozess der Zerstörung der überlieferten Wirtschaft und des Aufbaus der neuen in Zusammenhang bringen.

Ohne Zweifel bildeten und bilden die Gewerkschaften einen grundlegenden Boden für den Kampf um die Entfaltung der revolutionären Energie des Proletariats. Dies konnte aber nur dann mit Erfolg geschehen, wenn die Klassenpartei ernsthaft in den Gewerkschaften gearbeitet hat, um den Zielpunkt der Kämpfe von den kleinen Tagesinteressen auf die allgemeinen, historischen Interessen der Arbeiterklasse zu verlagern. Berufsgewerkschaft, aber auch Industriegewerkschaft stossen an Grenzen in dem Masse, in dem es Interessenunterschiede zwischen den verschiedenen Berufen und Gruppen von Arbeitern gibt. Sie stossen in ihrer Aktion aber an noch engere Grenzen, in dem Masse, in dem der Kapitalismus seine drei aufeinanderfolgenden Phasen durchläuft: Koalitions- und Streikverbot, Toleranz gegenüber autonomen Gewerkschaftsorganisationen und schliesslich deren Übernahme und Einsperrung ins bürgerliche System.

Auch unter dem Regime einer gefestigten Diktatur des Proletariats kann man aber die Gewerkschaften nicht als Organisationen auffassen, die die Arbeiterinteressen in grundlegender und endgültiger Form vertreten. Auch in dieser sozialen Phase können Interessenkonflikte zwischen verschiedenen Arbeitergruppen überleben. Die grundlegende Tatsache liegt aber daran, dass die Arbeiter nur solange einen Grund haben, sich der Gewerkschaften zu bedienen, wie die Arbeitermacht gezwungen ist, die Anwesenheit von Arbeitgebern vorübergehend zu tolerieren. Diese werden mit der Entwicklung des Sozialismus verschwinden, und mit ihnen der Anlass der gewerkschaftlichen Aktion. Unsere Auffassung von Sozialismus besteht nicht darin, den privaten Arbeitgeber durch den staatlichen Arbeitgeber zu ersetzen. Solange aber in der Übergangsphase ein solches Verhältnis bestehen sollte, kann man im höchsten Interesse der revolutionären Politik keineswegs akzeptieren, dass die ökonomischen Forderungen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter gegenüber dem staatlichen Arbeitgeber grundsätzlich und immer erfüllt werden müssen.

Ohne diese wichtige Untersuchung weiterzuführen, glauben wir, erklärt zu haben, warum wir linke Kommunisten nicht akzeptieren, dass eine Stimmenmehrheit der gewerkschaftlich organisierten Masse Einfluss auf die revolutionäre Politik erlangt.

Gehen wir auf die Frage der Fabrik und Betriebsräte über. Als diese ökonomische Organisationsform erschien, wurde sie für viel radikaler als die Gewerkschaft gehalten. Inzwischen hat sie das Image einer revolutionären Eigendynamik gänzlich verloren und einen Platz in der Gedankenwelt aller politischen Strömungen, einschliesslich der faschistischen, gefunden. Die Auffassung vom Betriebsrat als Organ, das sich zunächst an der Produktionskontrolle, dann an der Produktionsverwaltung beteiligen würde, um schliesslich den ganzen Produktionsapparat, Betrieb nach Betrieb, zu erobern, entlarvte sich klar als kollaborationistisch. Sie zeigte sich nicht weniger als die alte Gewerkschaftlerei dazu geeignet, die Kanalisierung der Massen zum einheitlichen und zentralen Endkampf um die Macht zu behindern.

Darüber entbrannte seinerzeit eine Polemik, die in den jungen kommunistischen Parteien grosses Aufsehen erregte, weil sich die Bolschewiki dazu gezwungen sahen, einschneidende und oft drastische Massnahmen gegen autonomistische Versuche der wirtschaftlichen und technischen Selbstverwaltung russischer Arbeiter zu ergreifen. Solche autonomistischen Versuche, die mit der Durchführung eines wahren sozialistischen Planes unvereinbar sind, drohten die Leistungskraft des russischen Produktionsapparates äusserst ernsthaft zu gefährden (worauf die Konterrevolutionäre spekulierten). In der Tat, noch mehr als die Gewerkschaft kann der Betriebsrat als Träger sehr beschränkter Interessen auftreten, die zu einem Gegensatz zu den allgemeinen Klasseninteressen führen können.

Andererseits ist der Betriebsrat ebensowenig eine endgültige Grundorganisation des proletarischen Regimes. Wenn in bestimmten Sektoren der Produktion und Zirkulation eine wahre kommunistische Wirtschaft eingeführt wird, d.h., wenn man weit über die einfache Verjagung des Kapitalisten und die Betriebsführung durch den Staat hinausgegangen ist, muss man gerade die Betriebswirtschaft abschaffen. Wenn die marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse überwunden werden, wird der einzelne Betrieb lediglich ein technischer Knotenpunkt des grossen, einheitlich und rationell geleiteten Gesamtnetzes sein. Der Betrieb wird keine Bilanz von Einnahmen und Ausgaben mehr haben, also kein Unternehmen mehr sein, weil der Produzent ebensowenig ein Lohnarbeiter sein wird. Der Betriebsrat hat also wie die Gewerkschaft natürliche Funktionsgrenzen. Er kann deshalb nicht gänzlich der wahre Nährboden der Vorbereitung der Arbeiterklasse sein, dieser Vorbereitung, die dem Proletariat den Willen und die Fähigkeit einflösst, bis zur vollen Verwirklichung seiner höchsten Ziele zu kämpfen. Dies ist der Grund, weshalb diese ökonomischen Organisationen kein Appellationsgericht sein können, das kontrollieren soll, ob die machthabende Partei vom historischen Weg des Kommunismus abgewichen ist.

Es bleiben noch die Organisationen zu behandeln, die die Oktoberrevolution ins Leben rief: die Arbeiter- und Bauernräte, in einer ersten Phase auch Soldatenräte.

Es wird behauptet, dass dieses System eine neue, verfassungsmässige Organisationsform des Proletariats darstellt, die im Gegensatz zur Tradition der bürgerlichen Machtorgane steht. Das Rätesystem geht vom kleinsten Dorf aus und gliedert sich stufenweise bis zur obersten Spitze, zur Führung des Staates. Es wird nicht nur dadurch gekennzeichnet, alle Mitglieder der alten besitzenden Klasse auszuschliessen, d.h. den organisatorischen Ausdruck der proletarischen Diktatur zu liefern, sondern auch dadurch, alle Gewalten - repräsentative, exekutive und theoretisch auch judikative - in sich zu vereinen. Es sollte sich also um ein perfektes Räderwerk von Demokratie innerhalb der Klasse handeln, dessen Entdeckung alle Parlamente des bürgerlichen Liberalismus in den Schatten stellen würde.

Seitdem der Sozialismus die utopische Phase überwunden hat, weiss allerdings jeder Marxist, dass die Erfindung einer Verfassungsformel, einer Organisationsformel, nicht ausreicht, um die grossen historischen Zeitalter, die Produktionsweisen, zu unterscheiden. Verfassungen sind vorübergehende Widerspiegelungen von Kräfteverhältnissen; sie entspringen keinen universellen Prinzipien, auf die man eine immanente Organisationsform des Staates zurückführen könnte.

Die Räte sind wirkliche Klassenorgane und nicht, wie zunächst von manchem gedacht, Vereinigungen von korporativen oder beruflichen Vertretungen. Sie leiden also nicht unter der Beschränktheit der rein ökonomischen Organisationen. Für uns liegt ihre grosse Bedeutung darin, dass sie Kampforganisationen sind. Wir suchen also nicht ihre Interpretation anhand von festen Organisationsmodellen, sondern untersuchen sie in der Geschichte ihrer wirklichen Entwicklung.

Eins der grundlegendsten Momente der Revolution ereignete sich, als nach der Wahl für die demokratische gesetzgebende Versammlung die Räte sich als dialektischer Gegenpol gegen sie erhoben und die bolschewistische Macht die Gewaltauflösung der parlamentarischen Versammlung verfügte: die geniale weltgeschichtliche Losung »Alle Macht den Sowjets« trat in Kraft.

Die Räte sind aber kein Allheilmittel. Auch, wenn man von der unvermeidlichen Fluktuation ihrer Zusammensetzung absieht, kann man nicht behaupten, in den Stimmenmehrheiten der Räte ein sicheres und bequemes Mittel zu haben, mit dem man alle schwierigen Probleme des revolutionären Kampfes im Inneren und nach aussen hin lösen und sogar die konterrevolutionäre Entartung vermeiden kann.

Auch die Räte machen eine komplexe geschichtliche Entwicklung durch. Diese Entwicklung muss sich auch im günstigsten Fall mit der Auflösung der Räte zusammen mit dem Staat abschliessen. Die Geschichte der revolutionären Jahre nach dem ersten Weltkrieg zeigt ausserdem, dass die Räte nicht nur ein mächtiges revolutionäres Instrument sein können, sondern auch unter konterrevolutionären Einfluss fallen. Gegen eine solche Gefahr werden sie durch keine Organisationsformel, durch keine Verfassung, immun gemacht. Das bestimmende ist hier die nationale und internationale Entwicklung der sozialen Kräfteverhältnisse.

In eurem Eifer, den Vorrang der revolutionären Partei, der politisch organisierten Klassen-minderheit, über alle anderen Organisationen herauszustellen, scheint ihr also zu glauben, dass die Partei ewig ist, dass sie sogar das Absterben des Staates überlebt, könnte man uns darauf einwenden.

Wir möchten hier nicht auf die Frage der späteren Transformation der Partei eingehen. Wie das Absterben des Staates in der marxistischen Auffassung eigentlich seiner Verwandlung vom politischen Zwangsapparat in ein grosses und immer rationelleres technisches Leitungsorgan gleichkommt, so wird sich auch die Partei in ein einfaches Forschungsorgan verwandeln und in der Zukunft mit den grossen wissenschaftlichen Instituten der neuen Gesellschaft zusammenfallen. Nur soviel sei hier gesagt.

Das kennzeichnende Merkmal der Partei ergibt sich aus ihrer organischen Natur. Man geht nicht in die Partei, weil man einen bestimmten Posten in der Wirtschaft oder Gesellschaft »strukturell« innehat. Kein Mensch wird automatisch zum Parteimitglied, nur weil er Proletarier, Wähler, Bürger usw., ist.

Wie die Juristen sagen würden, man tritt der Partei aus freier, persönlicher Entscheidung bei. Wir Marxisten drücken es anders aus: der Parteibeitritt wird immer durch die Verhältnisse der gesellschaftlichen Umgebung determiniert, er steht aber auch in einem allgemeinen Zusammenhang mit den universellen Charakteristiken der Klassenpartei, mit ihrer Präsenz in der ganzen zivilisierten Welt, mit ihrer Zusammensetzung aus Lohnarbeitern aller Berufe und Betriebe und im Prinzip auch aus Nichtarbeitern, mit der Kontinuität ihrer Arbeit durch die aufeinanderfolgenden Phasen der Propaganda, der Organisation, des physischen Kampfes, der Machteroberung und des Aufbaus einer neuen Gesellschaft.

Die politische Partei ist von allen proletarischen Organisationen diejenige, die am wenigsten unter den Struktur- und Funktionsgrenzen leidet, die die günstigsten Bedingungen für die Ausbreitung klassenfremder Einflüsse, für die Einnistung ansteckender opportunistischer Keime bilden. Wir sagten andererseits von vornherein, dass selbst die Partei von dieser Gefahr bedroht wird. Aus dem oben Gesagten ergibt sich aber, dass wir die Verteidigung der Partei keineswegs in ihrer Unterordnung unter andere Organisationen ihrer Klasse suchen. Diese Unterordnung wird sehr oft böswillig gefordert, manchmal jedoch auch durch den naiven Eindruck, den die zahlenmässige Stärke dieser anderen Organisationen hervorruft.

• • •

Unsere Auffassung dieser Frage betrifft auch die berühmte Forderung der inneren Parteidemokratie. Wir bestreiten nicht, dass es äusserst viele und verheerende Beispiele für Fehler von Parteizentralen gibt. Kann man aber solche Fehler dadurch vermeiden oder wiedergutmachen, dass man die Meinungen der Basismitglieder, wie üblich, arithmetisch addiert?

Die Ursachen für die Entartungen der revolutionären Parteien liegen nach unserer Auffassung nicht darin, dass Kongresse und Versammlungen aller Militanten sich wenig oder kaum zu den Initiativen der Zentralen äussern konnten.

In vielen historischen Wenden erlebte man eine konterrevolutionäre Unterdrückung der Basis durch die Führungszentrale. Sie erfolgte sogar mit der Anwendung aller Zwangsmittel des Staatsapparates, auch der grausamsten. Dies alles war aber nicht der Ursprung, sondern die unvermeidliche Äusserung der Parteientartung, ihres Nachgebens unter materiell gegebenen konterrevolutionären Einflüssen.

Welche Position vertritt die kommunistische Linke Italiens zu dieser Frage, die man »Frage der revolutionären Bürgschaften« nennen könnte? Zunächst, dass es keine »verfassungsmässigen« oder vertraglichen Garantien gibt, und dies obwohl die Partei im Gegensatz zu den anderen untersuchten Organisationen die Charakteristik hat, eine vertragliche Grundlage zu besitzen (wir benutzen den Ausdruck selbstverständlich nicht im Sinne der Juristerei und auch nicht von J.J. Rousseau). Das Verhältnis des Militanten zur Partei beruht auf einer Verpflichtung. Da das Wort »vertraglich« sehr unsympathisch ist, nennen wir das Verhältnis ganz einfach »dialektisch«: Es ist ein Wechselverhältnis, ein Kreislauf vom Zentrum zur Basis und umgekehrt. Wenn das Zentrum, die Partei, in Übereinstimmung mit einer guten Funktion dieses dialektischen Verhältnisses führt, reagiert die Basis entsprechend gut.

Das bedeutet, dass das berühmte Problem der Disziplin darin besteht, der Basis Grenzen zu stellen, die mit den Grenzen, die der Aktion der Führer gestellt sind, übereinstimmen. Wir haben deshalb immer vertreten, dass es den Führern nicht freigestellt sein darf, in den wichtigen Wenden der politischen Konjunktur neue Prinzipien, Formeln, Aktionsformen usw. zu entdecken, zu erfinden und anzuwenden. Die Geschichte der opportunistischen Verrate liefert eine ganze Chronik solcher Überraschungscoups. Wenn solche Krisen ausbrechen, zeigt sich wieder einmal, dass die Partei keine automatische Schnellstartmaschine ist: interne Kämpfe, Fraktionsbildung und Spaltungen entstehen. Sie sind unter diesen Umständen ein nützlicher Prozess, wie das Fieber, das den Organismus von der Krankheit befreit, können jedoch nicht »verfassungsmässig« zugelassen, ermutigt oder toleriert werden.

Man kann also nicht mit Regeln und Rezepten verhindern, dass die Partei in opportunistische Krisen stürzt und darauf notwendigerweise mit Fraktionsbildung reagiert. Es gibt aber die Erfahrung so vieler Jahrzehnte proletarischen Kampfes. Sie erlaubt uns, bestimmte optimale Bedingungen festzustellen, Bedingungen, die unsere Bewegung als ständige Aufgabe untersuchen, verteidigen und durchsetzen muss. Zum Schluss werden wir die wichtigsten aufzählen:

  1. Die Partei muss die marxistische Theorie, wie sie sich historisch in ihrer Anwendung auf die geschichtliche Entwicklung herausgebildet hat, mit äusserster Klarheit und Kontinuität verteidigen und vertreten. Prinzipielle Erklärungen, die auch nur im geringsten Widerspruch zu ihren theoretischen Grundlagen stehen, dürfen nicht erlaubt werden.

  2. Die Partei verkündet in jeder Situation offen und vollständig ihr ökonomisches, soziales und politisches Programm, vor allem die Punkte, die die Machtfrage, die bewaffnete Machtergreifung, die diktatorische Machtausübung betreffen.
    Diktaturen, die zu einem Regime von Privilegien für einen engen Kreis von Bürokraten und Schergen entarten, verschleierten diesen Degenerationsprozess immer im Namen des Volkes unter ideologischen Erklärungen demokratischen und nationalen Inhalts. Die Entartung spielte sich immer unter dem Vorwand ab, die ganzen Volksmassen hinter sich zu haben. Die revolutionäre Partei erklärt im Gegenteil ohne Zögern ihre Absicht, den Staat und die Institutionen zu zerschlagen und die besiegte Klasse unter dem despotischen Druck der Diktatur niederzuhalten, auch wenn sie offen zugibt, dass nur eine fortschrittliche Minderheit der unterdrückten Klasse dazu gelangte, diese Kampferfordernisse zu verstehen.
    Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen (»Manifest«). Nur Renegaten können vorgeben, diese Absichten gleichzeitig zu erreichen und geschickt zu verheimlichen.

  3. Die Partei muss die äusserste organisatorische Strenge beachten: sie lehnt es ab, Mitglieder durch Kompromisse mit Gruppen und Sekten oder (was noch schlimmer ist) Basismitglieder gegen Zugeständnisse an sogenannte Führer im Tauschhandel zu erwerben.

  4. Die Partei muss für ein klares geschichtliches Bewusstsein der antagonistischen Natur des Kampfes arbeiten. Die Kommunisten beanspruchen die Initiative zum Angriff gegen eine ganze Welt mit ihren Institutionen und Traditionen. Sie wissen, dass sie für alle Privilegierten eine Gefahr darstellen. Sie rufen die Massen zum Angriffskampf auf und nicht zur Verteidigung gegen die angebliche Gefahr, Errungenschaften des Kapitalismus (die hochgepriesenen Vorteile und Fortschritte) zu verlieren. Die Kommunisten vermieten und verleihen nicht ihre Partei, um als Rettungsmannschaft in Verteidigung fremder Sachen und nichtproletarischer Ziele, wie der Freiheit, des Vaterlandes, der Demokratie und anderer ähnlicher Lügen, herbeizueilen.
    »Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten«.

  5. Die Kommunisten verzichten auf die ganze Palette von taktischen Kunstmitteln, die man mit der Absicht eingesetzt hat, die Zusammenführung von breiten Schichten der Massen um das revolutionäre Programm zu beschleunigen. Diese Kunstmittel sind der politische Kompromiss, das Bündnis und die Einheitsfront mit anderen Parteien, die verschiedenen Ersatzformeln für die Diktatur des Proletariats (Arbeiter- und Bauernregierung, Volksregierung, fortschrittliche Demokratie).

Die Kommunisten betrachten die Anwendung dieser taktischen Mittel in historischer Sicht als eine der hauptsächlichen Bedingungen für die Auflösung der proletarischen Bewegung und des sowjetischen Regimes. Sie betrachten diejenigen, die ihre Klagen über die stalinistisch-opportunistische Zersetzung der Bewegung mit der Forderung nach diesem taktischen Arsenal verbinden, als gefährlichere Feinde als die Stalinisten selbst.

 

NACHWORT
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Die Arbeit, die wir unter dem Titel »Gewalt und Diktatur im Klassenkampf« in fünf Kapiteln veröffentlichten, behandelte die Frage der Anwendung von Gewalt in den sozialen Beziehungen und der Kennzeichen der revolutionären Diktatur in der marxistischen Auffassung. Wir hatten nicht vor, auf die Fragen der Organisation der Klasse und der Partei einzugehen, wurden aber im letzten Teil, bei der Diskussion über die Ursachen der Entartung der Diktatur, unmittelbar dazu geführt, weil viele Leute diese Ursache vorwiegend in Fehlern bezüglich der inneren Organisation und in der Verletzung einer demokratischen und abstimmungsmässigen Praxis in der Partei und in den anderen Klassenorganisationen erblicken.

Bei der Widerlegung dieser These haben wir allerdings eine Unterlassung begangen. Wir erwähnten nicht eine wichtige Polemik, die 1925-26 in der Kommunistischen Internationale ausbrach und die Änderung der Organisationsgrundlagen der kommunistischen Parteien auf Betriebszellen betraf. Die italienische Linke hat sich entschieden, aber fast allein, dagegen gestellt. Sie vertrat die Position, dass die örtlichen Kreise weiterhin die Organisationsgrundlage bilden sollten. Diese Position wurde damals in allen Verästelungen erläutert, der zentrale Punkt war aber folgender: Die organische Funktion der Partei, die darin von keiner anderen Organisation ersetzt werden kann, besteht darin, die einzelnen ökonomischen, beruflichen und lokalen Kämpfe zum allgemeinen proletarischen Klassenkampf, der sich auf sozialer und politischer Ebene abspielt, zu vereinen und zu entwickeln. Eine Organisationseinheit, die nur Arbeiter eines selben Berufes und eines selben Betriebes erfasst, ist einer solchen Aufgabe nicht ernsthaft gewachsen. Sie wird an sich nur von beschränkten und korporativen Forderungen beansprucht; die einheitlichen Parteidirektiven können sich nur als eine fremde Sache, die von oben kommt, manifestieren. Der Parteifunktionär wird sich niemals auf gleichem Fuss mit den einzelnen Basismitgliedern treffen; da er keinem Betrieb angehört, wird er in einem gewissen Sinne nicht mehr zur Partei gehören.

In der örtlichen Sektion stehen die Arbeiter aller Berufe, aus den verschiedensten Betrieben, von vornherein auf derselben Ebene wie die anderen Militanten, die aus nichtproletarischen Gesellschaftsschichten kommen; Militante, deren Mitgliedschaft die Partei offen akzeptiert, die sie als solche auf jeden Fall aufnehmen muss, auch wenn sie sie notfalls länger beobachten sollte, bevor sie sie gegebenenfalls zu Organisationsposten beruft.

Man sagte, dass die Organisation nach Betriebszellen die Partei enger mit den breiten Massen verbinden würde. Wir zeigten damals, dass diese wahre Karikatur der leninistischen Auffassung von Berufsrevolutionären in Wirklichkeit die Parteikader der Parteibasis entgegenstellte und dieselben opportunistischen und demagogischen Fehler des rechten Ouvrierismus wiederholte.

Die Linke ersetzt das idiotische, der bürgerlichen Demokratie nachgeäffte Mehrheitskriterium durch ein viel höheres, dialektisches Kriterium, bei dem alles von der festen Bindung der Militanten und Führer zu der imperativen Kontinuität der Theorie, des Programms und der Taktik abhängt. Sie verwirft jede demagogische Anbiederung an übermässige und deshalb leicht manipulierbare Schichten der Arbeiterklasse. Diese Ansichten über die Organisation der Partei dienen auch als einzige einer Vorbeugung gegen bürokratische Degeneration der Parteikader und gegen die Überrumpelung der Basismilitanten seitens dieser Kader, beides Sachen, die immer auf eine Rückkehr von verheerenden Einflüssen der feindlichen Klasse hinauslaufen.

Notes:
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  1. minus habens = lateinischer Ausdruck für die Armen, für die unteren Bevölkerungsschichten (minderbemittelt). [back]
  2. Pacelli = bürgerlicher Name des damaligen Papstes Pius XII. [back]
  3. für eine Untersuchung dieser Seite des Problems siehe unsere Publikationen »Revolution und Konterrevolution in Russland«, »Struttura economica e sociale della Russia d'oggi« und »Bilan d'une révolution«.
    Für eine Untersuchung des Zersetzungs- und Vernichtungsprozesses der bolschewistischen Partei siehe die Reihe »La crise de 1926 dans le P.C. russe et l'Internationale« in »Programme Communiste« Nr. 68, 69/70, 73 und 74.
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  4. Possibilismus (possibilisme) war die aus Frankreich stammende Bezeichnung für die opportunistische Ausrichtung der Sozialdemokratie, die Ende des vorigen Jahrhunderts unter dem Vorwand, das unter den gegebenen Verhältnissen Mögliche (possible) zu erreichen, die proletarischen Prinzipien und Kampfmethoden preisgab, um sich auf dem Wege der Klassenkollaboration mit der Bourgeoisie der bürgerlichen Staatsmacht bis hin zu der Übernahme von Ministerposten anzubiedern. [back]

Source: 1946-1948

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